Einem erbarmungslosen Vernichtungswillen ausgeliefert

Rezensiert von Margarete Limberg · 13.10.2006
Mit seinem neuen Buch zeigt Saul Friedländer, wie sehr die Durchsetzung des nationalsozialistischen Vernichtungsprogramms von der Unterstützung und Beteiligung der Bevölkerung abhing. Auf bedrückende Weise legt der Historiker dar, dass Hitler sich nicht nur auf eine antisemitische Kultur, sondern auch auf das völlige Fehlen von Solidarität verlassen konnte.
Saul Friedländer gelingt mit seinem Werk eine wissenschaftliche Analyse auf höchstem Niveau, und dennoch verliert er nie das einzelne Opfer aus den Augen. Was es bedeutet, die Opfer zu einem konstitutiven Element der Erzählung über den Massenmord an den Juden zu machen, beschreibt der Freiburger Historiker Ulrich Herbert:

"Das Geschehen verlagert sich für den Leser auf diese Weise, und er kann dieser Verlagerung gewissermaßen nicht entrinnen. Er ist gezwungen, vom Schreibtisch Eichmanns und den Amtsstuben des örtlichen Gestapochefs in das Innere der Güterwagen mit hinein zusteigen und zu erleben, was dort geschah und sich nicht auf die Akten der Täter zu reduzieren."

Nur indem man die Stimmen der Opfer zu Gehör bringe, entgehe man der Gefahr einer domestizierten Erinnerung, sagt der Autor selbst:

"Bald vertrauten Hunderte, ja Tausende von Zeugen ihre Beobachtungen der Verschwiegenheit ihrer privaten Aufzeichnungen an. Diese Quellen schildern in allen Einzelheiten die Initiativen und die alltägliche Brutalität der Täter, die Reaktionen der Bevölkerung, das Leben und die Vernichtung ihrer eigenen Gemeinschaften, aber sie halten auch die Welt ihres Alltags fest, eine Welt voller Verzweiflung, Gerüchten, Illusionen und Hoffnungen, die einander unablässig ablösen."

Die besondere Qualität des Buches ergibt sich aber auch daraus, dass der Autor sich nicht allein auf das Dritte Reich und seine Machthaber konzentriert, sondern gleichzeitig das Geschehen in den besetzten und verbündeten Ländern Europas, aber auch in den USA und Palästina schildert und analysiert. Was angesichts des erbarmungslosen Vernichtungswillens, mit dem die Deutschen vorgehen, besonders erschüttert, ist die völlige Verlassenheit der Verfolgten, das Fehlen jeglicher Solidarität und zwar überall:

"Nicht eine einzige gesellschaftliche Gruppe, keine Religionsgemeinschaft, keine Forschungsinstitution oder Berufsvereinigung in Deutschland und in ganz Europa erklärte ihre Solidarität mit den Juden… Im Gegenteil: Viele Gesellschaftsgruppen, viele Machtgruppen waren unmittelbar in die Enteignung der Juden verwickelt und, sei es auch aus Gier, stark an ihrem völligen Verschwinden interessiert. Somit konnten sich nationalsozialistische und mit ihnen verwandte antijüdische politische Strategien bis zu ihren extremsten Konsequenzen entfalten, ohne dass irgendwelche nennenswerten Gegenkräfte sie hieran gehindert hätten."

Auf wen auch immer die Juden ihre Hoffnung setzten, sie wurden enttäuscht. Selbst für Politiker wie Ben Gurion in Palästina stand die Gründung des Staates Israel an erster Stelle, nicht das Schicksal der europäischen Juden.

Aryeh Klonicki, der sich mit seiner Frau Malwina und ihrem einjährigen Kind im Sommer 1943 aus Buczacz vor den Deutschen ins Umland retten konnte, beschreibt die Stimmung der polnischen Bevölkerung. Er weist darauf hin, dass jedem die Todesstrafe drohte, der einen Juden versteckte und fährt dann fort:

"Wenn da nicht der Hass der ortsansässigen Bevölkerung wäre, könnte man immer noch eine Möglichkeit finden, um sich zu verstecken. Jeder Hirte, jedes christliche Kind, das einen Juden sieht, meldet ihn sofort den Behörden, die keine Zeit verlieren, diesen Berichten nachzugehen. Da ist ein achtjähriger Junge (ein Christ natürlich), der den ganzen Tag in jüdischen Häusern herumlungert und der schon manches Versteck entdeckt hat."

Aryeh und Malwina lassen schließlich ihren Sohn Adam bei Nonnen zurück, die ihn bei sich behalten und taufen lassen. Sie selbst werden im Januar 1944 entdeckt und von den Deutschen ermordet. Von ihrem Sohn fehlt jede Spur.

Kaum jemand hat die Kollaboration in Europa so schonungslos offen gelegt wie Friedländer. Er hebt hervor, wie sehr die Durchsetzung des nationalsozialistischen Vernichtungsprogramms von der Unterstützung und Beteiligung, auch der bloßen Hinnahme der Verbrechen durch die einheimische Bevölkerung abhing:

"Ohne die Beteiligung der französischen beziehungsweise der niederländischen Polizei wäre die Verhaftung der Juden in Paris und Amsterdam schwierig gewesen. Ohne die mit Begeisterung durchgeführten und ausschließlich von Ungarn getragenen Festnahmeaktionen wäre es unmöglich gewesen, etwa 400.000 ungarische Juden in den Tod zu deportieren."

Hitler konnte sich auf eine antisemitische Kultur verlassen, die in Deutschland selbst Widerstandskreise erfasst hatte. Er fand überall willige Helfer, vor allem in Ost – und Mitteleuropa erfindungsreiche Folterer und Mörder.

Besonders hart geht Friedländer mit den Kirchen, vor allem mit der Beschwichtigungspolitik des Vatikans und Papst Pius XII ins Gericht. Er, der selbst von Katholiken vor dem Transport in ein Vernichtungslager gerettet wurde, verschweigt nicht mutige Rettungsaktionen kirchlicher und anderer Kreise, aber sein Fazit ist bitter, und er belegt dies mit einer Fülle an Belegen für das Versagen beider christlicher Kirchen angesichts des absolut Bösen . Als der Berliner Bischof Preysing einen öffentlichen Protest der katholischen Kirche gegen die Judenverfolgung fordert, erwidert ihm der päpstliche Nuntius in Berlin , Nächstenliebe sei ja gut und schön, aber die größte Nächstenliebe bestehe darin, der Kirche keine Schwierigkeiten zu machen:

"In Deutschland hat mit Ausnahme einzelner, von denen keiner den höheren Rängen der evangelischen oder der katholischen Kirche angehörte, kein protestantischer Bischof, kein katholischer Prälat öffentlich gegen die Vernichtung der Juden protestiert. Als Männer guten Willens wie Bischof Preysing aus Berlin oder der württembergische Bischof Theophil Wurm, die Stimme der Bekennenden Kirche, angewiesen wurden, ihre Bemühungen um vertrauliche Proteste einzustellen, fügten sie sich."

Die Kollaboration ist ein schändliches Kapitel europäischer Geschichte, aber es entlastet die Deutschen nicht, von denen die heimtückische und unerbittliche Mordmaschinerie organisiert und bis zur fast völligen Vernichtung des europäischen Judentums vorangetrieben wurde.

Für Friedländer ist Hitler die zentrale Figur, sein obsessiver Judenhass ist entscheidend. Der Historiker widerspricht damit der These, die so genannte Endlösung der Judenfrage, also die Vernichtung der Juden Europas, sei die Folge anderer nationalsozialistischer Ziele gewesen, etwa der Sicherung des Lebensstandards der Deutschen durch die Ausplünderung der Juden.

Ein zentrales Thema des Buches ist das Fehlen jeglicher Solidarität mit der verfolgten Minderheit, das selbst mutigste, ja heldenhafte Rettungs- und Widerstandsaktionen einzelner nicht kompensieren konnten. Friedländer zeigt aber auch den tragischen Prozess der Entsolidarisierung auf, den die tödliche Bedrohung unter den Juden auslöst, die in eine Situation geraten sind, in der sich der einzelne manchmal nur zu Lasten anderer retten kann. Etty Hillesum, die eine Stelle beim Judenrat in Amsterdam sucht, um der unmittelbaren Gefahr der Deportation zu entkommen, schreibt am 14. Juli 1942 in tiefer Verzweiflung in ihr Tagebuch:

"Das Bewerbungsschreiben an den Jüdischen Rat … hat mich heute aus meinem heiteren und doch wieder sehr ernsten Gleichgewicht gebracht. Als ob es gewissermaßen eine unwürdige Handlung wäre. Sich nach dem Schiffbruch um das eine Stück Treibholz im unendlichen Ozean zu drängeln. Und dann rette sich wer kann, den anderen beiseite stoßen und ihn ertrinken lassen, das ist alles so unwürdig, und drängeln mag ich auch nicht."

Die meisten Tagebuchschreiber ahnen das Ende, das ihnen und ihren Glaubensgenossen bevorsteht. Auch in Deutschland wusste ein Großteil der Bevölkerung seit Ende 1941 von den Vernichtungsaktionen. Friedländer zeigt an vielen Beispielen, wie auf vielfältigen Wegen Informationen über die Massenmorde in den Gaskammern ins Reich gelangten, ohne die Gleichgültigkeit der überwiegenden Mehrheit der Deutschen indessen zu erschüttern.

Saul Friedländer, der selbst als Zehnjähriger den NS-Mördern entkommen ist, hat ein Buch geschrieben, das aus der Fülle der Literatur zu diesem Thema weit herausragt, weil ihm eine bisher einzigartige Zusammenschau gelungen ist. Selbst derjenige, der glaubt, alles über den Holocaust zu wissen, wird dieses Werk mit großer Erschütterung lesen.

Saul Friedländer: Die Jahre der Vernichtung
Das Dritte Reich und die Juden 1939 - 1945
Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer
C. H. Beck Verlag, München 2006
Saul Friedländer: Die Jahre der Vernichtung (Coverausschnitt)
Saul Friedländer: Die Jahre der Vernichtung (Coverausschnitt)© C. H. Beck Verlag