Eine Welt von gestern

18.02.2013
Jiri Mordechai Langer beschreibt in seinen erstmals 1938 erschienenen Geschichten liebevoll die Chassidim - orthodoxe Juden in Prag - mit ihrem Glaubensleben und ihrem Alltag. Leser mit einem gewissen religiösen Grundinteresse werden sich an den Anekdoten erfreuen.
Das, wovon Jiri Mordechai Langer in den neun Kapiteln erzählt, gibt es nicht mehr. Diese Welt ist spätestens mit der Vernichtungspolitik der Nazis ausgelöscht worden: Jene der Chassiden in Europas Osten, in Galizien, Bessarabien, Polen und der Bukowina: Winzige Dörfer in unwirtlicher flacher, morastiger Landschaft, wo eine besonders gläubige Gruppierung des Judentums seine eigene Kultur pflegte. Langer hat dieser Kultur mit dem Buch ein Denkmal gesetzt.

Er zeichnet liebevoll die kleinen Leute, denn die jüdische Bevölkerung dieser Landflecken bestand nur aus kleinen Leuten, zeichnet ihr Glaubensleben, ihren Alltag und ihre Eigenheiten. Diese waren offenbar auch dem übrigen Judentum jener Zeit fremd, sowohl einige ihrer Riten als auch ihr Äußeres. Die Chassiden glaubten an die Wiedergeburt, beschäftigten sich mit der Kabbala, den mystischen Traditionen, und legten die Heiligen Schriften mit besonderer Ernsthaftigkeit aus. Deshalb lebten sie auch meist in bitterer Armut, weil sie sich zum Geben dessen verpflichtet fühlten, was sie ohnedies nur in geringem Ausmaß besaßen.

Dies beschreibt Langer in den neun Toren, den neun Kapiteln, die eigentlich jedes für sich eine Sammlung von Erzählungen aus dem religiösen Leben der Chassiden sind. Dabei widmet er jedes Kapitel, jedes Tor jeweils zwei bestimmten heiligmäßigen Rabbinern, jenen, die nicht nur ehrfürchtig Reb genannt werden, sondern Rebbe Reb, Menschen von besonderer Gnade: Sie können in die Zukunft sehen, mit den himmlischen Kräften in Kontakt treten, vor allem eines: Wunder wirken.

Dabei wird ein Zug der jüdischen Religion deutlich, der bei den Chassiden noch deutlicher zutage tritt: Die große Ehrfurcht vor dem Heiligen, dem Namen Gottes, gleichzeitig aber auch die natürliche Nähe zum Göttlichen, das allzu Menschliche im Himmel, das Handeln mit Gott. Hinzu kommt eine große Buchstabengläubigkeit, die zu Selbstkasteiung verleitet. Langer beschreibt das Leben der kleinen chassidischen Gemeinden im 18. und 19. Jahrhundert mit großer Anteilnahme und Sympathie. Er schildert die kleinen Schlitzohrigkeiten und die großen Taten seiner Protagonisten, ihre Tugenden und Fehltritte, wie sie sündigen und Vergebung erlangen. Er tut dies in kleinen Anekdoten, die staunen und schmunzeln lassen.

Das Buch gibt dabei nicht nur Einblick in das bescheidene, aber offenbar weitgehend glückliche, weil genügsame Leben der Chassiden in Europas Osten, es erzählt viel über das jüdische Leben allgemein. Langer tut dies mit einem unschuldigen, fast naiven Witz. Erst beschreibt er die "Heiligen" Rabbiner anhand einiger Geschichten, daran reiht er fast aphoristisch deren Aussagen und Erkenntnisse aneinander und gibt in gewundenen Reimen Ausblick aufs nächste Kapitel. Langer tut dies stets ein wenig augenzwinkernd mit jüdischem Humor.

Insbesondere der Übersetzung aus dem Tschechischen ist es zu verdanken, dass dieser Witz erhalten bleibt, ja man sogar in den Zeilen das Jiddische mitschwingen vermeint. Ein gewisses religiöses Grundinteresse sollte allerdings beim Lesen der "Neun Tore" mitgebracht werden, sonst könnten sie leicht langweilig, bigott oder allzu naiv empfunden werden. Dann aber wird man sich an den Anekdoten erfreuen, sie nicht auf ihre Plausibilität abklopfen wollen und das Buch in einer milden Grundstimmung ausgelesen weglegen.
Besprochen von Stefan May

Jiri Mordechai Langer: "Die neun Tore. Geheimnisse der Chassidim"
Aus dem Tschechischen von Kristina Kallert
Arco Verlag, Wuppertal/Wien 2013
400 Seiten, 28 Euro