Eine Wegweisung der Freiheit

Von Matthias Bertsch · 20.04.2013
Die zehn Gebote sind das Kernstück der Ethik im Judentum und im Christentum. Bis zum Lutherjahr 2017 wollen nun zwei Kulturstiftungen den so genannten Dekalog wieder stärker in das Bewusstsein heben. Es sind die St.-Matthäus-Stiftung der Evangelischen Kirche von Berlin-Brandenburg und die private Guardini-Stiftung.
Ohne Luther wären die Zehn Gebote in Deutschland heute wohl kaum so bekannt, wie sie es sind, ist der Direktor der St. Matthäus-Stiftung, Christhard-Georg Neubert, überzeugt:

"Der biblische Dekalog, seinerzeit eine Art Gottesoffenbarung an Mose, ist ja von Martin Luther im kleinen Katechismus Gegenstand einer Lehre für jeden Hausvater: Wie kriegt man das hin, das eigene Leben zu ordnen, und nach welchen Regeln kann man das tun? Und da hat Martin Luther sich an die Zehn Gebote gehalten und die dann mit sehr eindrücklichen Erklärungen verbunden."

Ob diese Erklärungen heute noch gültig sind und vor allem was sie den Menschen heute noch zu sagen haben, das wollen die Guardini- und die St. Matthäus-Stiftung in zahlreichen Ausstellungen, musikalischen Kompositionen, Lesungen und nicht zuletzt in Filmen thematisieren: Hierfür haben die beiden Stiftungen einen Filmpreis ausgeschrieben, der sich vor allem an Studenten von Filmakademien und Kunsthochschulen wendet.

Sie sollen sich - ähnlich wie vor 25 Jahren der polnische Regisseur Krzysztof Kieœlowski in seinem Filmzyklus Dekalog - mit der Bedeutung des jeweiligen Gebotes in der heutigen Gesellschaft auseinandersetzen. Das Ergebnis dieser Suche nach der Aktualität der Zehn Gebote ist offen, sagt die Guardini-Geschäftsführerin Mariola Lewandowska.

"Für mich das Spannende an dem Projekt ist, dass wir einen Assoziationsraum eröffnen, dass wir sehr kreativ mit der Thematik umgehen. Das ist für mich das Wichtigste, dass wir keine Geschichtsbetrachtung machen, sondern wirklich in die Zukunft denken und damit Leute ansprechen, die im Grunde gar nicht wissen, was die Zehn Gebote eigentlich sind auch."

Die einfachen Leute also, nicht nur Intellektuelle und Bildungsbürger. Die Orte, an denen die Ausstellungen, Diskussionen und Konzerte stattfinden - das sind vor allem die Sankt-Matthäus-Kirche und die Galerie der Guardini-Stiftung -, dürften allerdings bereits eine Vorauswahl darstellen, was das Zielpublikum angeht. Und dennoch ist es den Beteiligten des Dekalog-Projektes wichtig, im Sinne Luthers auch den "kleinen Mann" oder die "kleine Frau" zu erreichen.

"Ich kann nur sagen: Wir versuchen, diese einfache Ebene zu erreichen, auch Beispiele zu bringen, die das aus dem elitären und komplizierten Denkfeld herausführen, die also sehr einfach zu lesen sind, etwa die Frage, ob eine Bauanleitung für ein Fertigmöbel vielleicht etwas mit den Zehn Geboten zu tun hat, ob die Zehn Gebote nicht so was wie ne Art Bauanleitung für die eigene Lebensform sind, das wäre für uns ne Form, das Ganze aus dem sehr hochgestellten elitären kulturellen Bereich in unsere Niederungen zu bringen, wo ja Luther auch gewirkt hat."

Eugen Blume ist Leiter des Hamburger Bahnhofs, des Berliner Museums für Gegenwart und verantwortlich für die erste Ausstellung, die am 30. April in der Guardini Galerie eröffnet wird: "Dekalog - Ein Assoziationsraum". Im Mittelpunkt der Schau werden das Bilder- und vor allem das Fremdgötterverbot stehen, das im ersten Gebot zum Ausdruck kommt: "Ich bin der Herr dein Gott, du sollst nicht andere Götter neben mir haben." Es ist das wichtigste und zugleich wohl schwierigste der Gebote.

Christhard-Georg Neubert: "Was bedeutet eigentlich das erste Gebot? Wir leben ja in einer Zeit der Vielgötterei, wir müssen jetzt nicht nur an das Fernsehen, die Autos, die diversen Fetische denken, wir müssen uns einfach nur vor Augen halten, dass die Wertsysteme doch sehr ausdifferenziert sind, und die Frage ist: Wo ist das Verbindende, wo ist das, woran sich ein Gemeinwesen orientieren kann sozusagen als eine Form übergreifender Wertorientierung."

Den Auftakt zu dem auf fünf Jahre angelegten Projekt - bis 2017 sollen jedes Jahr zwei Gebote thematisiert werden - machte am Dienstag eine Diskussionsveranstaltung mit dem Titel "Dekalog heute - Was haben uns die zehn Gebote heute noch zu sagen?". Viel, lautete die Antwort des ehemaligen Ratsvorsitzenden der EKD, Wolfgang Huber, der die Gebote vor allem eine Wegweisung der Freiheit nennt.

"Zu der gehört, Richtung anzugeben und gleichzeitig Grenzen zu setzen, das ist das Eindrucksvolle am Dekalog, und zwar eine Wegweisung der Freiheit auf der Basis einer Zusage. Man vergisst ja immer, dass der Dekalog gar nicht mit Geboten beginnt, sondern mit der Zusage: Ich bin der Herr dein Gott, und wenn man ein bisschen hinschaut, wie Martin Luther das interpretiert hat, dann ist das wirklich wahnsinnig Beeindruckende die Intensität, mit der Luther diesen Anfang des Dekalogs interpretiert hat, also genau das, was heute eigentlich immer vergessen wird. Also für die meisten Leute fängt der Dekalog mit dem vierten, vielleicht auch erst mit dem fünften Gebot an: Du sollst nicht töten und du sollst Vater und Mutter ehren. Aber das, womit er anfängt, kommt ja überhaupt nicht vor."

Doch egal, ob Wegweisung im Sinne eines Angebotes oder Ge- und Verbote mit bindendem Charakter. Der Dekalog stelle sicher ein Fundament der europäischen Geschichte dar, betonte der Philosoph Ugo Perone, der an der Humboldt-Universität die Guardini-Professur für Religionsphilosophie und Katholische Weltanschauung innehat. Allerdings sei der Dekalog ein Fundament, das heute in unserer Gesellschaft keine allgemeine Gültigkeit mehr beanspruchen könne. Gerade deswegen komme es darauf an, den Wert der Zehn Gebote neu zu entdecken.

"Gerade die Tatsache, dass die Gebote nicht nur eine Erfindung von Menschen sind - die sind natürlich ein Wort von Menschen, aber ein Wort von Menschen, die gemeint haben, dieses Wort von Gott bekommen zu haben, hat in sich einen großen und sehr allgemeinen Wert, nämlich dass die Moral nicht eine Erfindung der Menschen ist, sondern die Antwort der Menschen auf eine Herausforderung, die von draußen kommt."

Ob diese Herausforderung das Wort Gottes sei oder die Existenz anderer Menschen, ist dabei zweitrangig, sagt Perone. Wichtig sei, auf die Herausforderung zu antworten und damit Verantwortung zu übernehmen.

Links auf dradio.de:
Der Dekalog - Was er uns noch zu sagen hat
Die Macht der Religionen - "Wegmarken", Teil 4 - Die christliche Perspektive: Religion und Moral - Der Tanz um das Goldene Kalb