Eine "unglaublich schöne Welt"

Steinunn Sigurdardottir im Gespräch mit Klaus Pokatzky · 16.08.2010
In einer zärtlichen und sinnlichen Prosa habe der Schwede Göran Tunström in "Solveigs Vermächtnis" die Reize seines Heimatlandes beschrieben, sagt die Autorin Steinunn Sigurdardottir - und empfiehlt das Buch daher für unsere Sommerserie "Europäischer Kanon".
Klaus Pokatzky: Steinunn Sigurdardottir ist heute unser fachkundiger Gast, herzlich Willkommen!

Steinunn Sigurdardottir: Vielen Dank!

Pokatzky: Sie sind in Island geboren, in der Hauptstadt Reykjavik. Sie haben als Radio- und Fernsehjournalistin in Europa, in den USA, in Japan gelebt, nun wohnen Sie in Berlin-Kreuzberg. Auf Deutsch sind zuletzt Ihre Romane "Gletschertheater" erschienen, "Die Liebe der Fische" und "Sonnenscheinpferd", das vor zwei Jahren. Und das Buch, das Sie nun in unserer Reihe "Europäischer Kanon" einreihen, ein Buch, das man als Europäer unbedingt kennen sollte, ist "Solveigs Vermächtnis". Und geschrieben hat es Ihr schwedischer Schriftstellerkollege Göran Tunström, er hat von 1937 bis 2000 gelebt, und er soll nach Astrid Lindgren in Schweden der bekannteste Literat sein. Stimmt das?

Sigurdardottir: Er war und ist immer noch also ein Nationalheld in Schweden. Es gibt natürlich auch Selma Lagerlöf, es gibt viele Schriftsteller, aber er war wirklich also auch in Skandinavien sehr bekannt. In Island, ich glaube, ich kenne kaum jemanden, der seinen Roman, worüber wir heute sprechen, nicht gelesen hat. Übrigens, der Titel auf Deutsch ist ein bisschen unglücklich, das Buch heißt "Weihnachtsoratorium".

Pokatzky: Weihnachtsoratorium heißt auf Schwedisch was genau?

Sigurdardottir: Juloratoriet.

Pokatzky: Welche Rolle spielt das Juloratoriet, also das Weihnachtsoratorium, denn in dem Roman?

Sigurdardottir: Also, es ist nichts weniger als der Grund des Buches. Die wunderbare Frau Solveig Nordenssons, die Mutter von der Hauptfigur Sidners, sie stirbt an einem Unfall auf seinem Bauernhof, sie fährt Rad und überlebt nicht den Unfall, und sie ist auf dem Weg zum Weihnachtsoratorium, zu einer Probe.

Pokatzky: Also Bach?

Sigurdardottir: Ja, genau. Und Johann Sebastian Bach ist eine große Figur im Buch, weil das kleine Kind, der Junge, der seine Mutter verloren hat, er schreibt immer nur Aufsätze über Johann Sebastian Bach in der Schule. Er soll vielleicht etwas über Sommer schreiben, dann schreibt er Johann Sebastian Bach.

Pokatzky: Alles in dem kleinen Dorf Sunne?

Sigurdardottir: Das ist in dem Bezirk Värmland in Schweden, und Sunne ist das Städtchen, wo Göran Tunström immer wiederkehrt, diese wunderbare, unglaublich schöne schwedische Landschaft mit seinen skurrilen Figuren.

Pokatzky: Jetzt können wir vielleicht einen kleinen Auszug einfach mal einspielen:

Sie verstummen wie schon früher so viele Male, horchen in sich hinein, von Bachs Weihnachtsmusik umworben. Aber erst musst du mich anschieben, Sidner! Und er legt die Hände auf den Gepäckträger, drückt die nackten Füße in den Kies und gibt ihr einen Stoß. Solveig setzt sich auf den Sattel, und es geht bergab. Es singt in den Speichen. Sand und Steinchen spritzen hoch. Und sie zieht von Bäumen und Grabenrändern den ganzen Sommer in die Lungen, atmet die Düfte von Wiesenkönigin, Labkraut und Gänseblümchen ein, und Sidner überquert den Hof, stellt sich an den Rand des steilen Abhangs direkt über der Wegbiegung und ruft: Hey, und sieht die Kühe, sieht den Vater, sieht, wie Solveig mit den Füßen bremst.

Sieht die Kette abspringen. Sieht, dass sie nicht ausweichen kann. Sieht, wie die vordersten Kühe sich vor diesem heranrasenden Pfeil zur Seite stürzen. Sieht, wie die, die hinterhertrotten, es nicht mehr schaffen. Sieht, dass Solveig direkt in die Schlucht aus Fleisch und Hörnern und Klauen hineinfährt. Sieht sie fallen und liegen bleiben, während es über ihr tritt und tritt, noch lange, nachdem es sie nicht mehr gibt. Man erlebt – so notiert Sidner in seinem Heft über Zärtlichkeiten – Augenblicke, die nie zu Ende gehen.


Pokatzky: Solveig, die in das Dorf Sunne den Kuss in der Öffentlichkeit gebracht hat – in den 30er-Jahren des vorigen Jahrhunderts. Wie hat sie das gemacht und was ist eigentlich noch ihr Vermächtnis, um damit dann auch wieder auf den deutschen Titel zu kommen?

Sigurdardottir: Der Kuss kommt aus Amerika, das sagen die Leute. Aber diese Frau, das ist eines der wundervollsten Frauenporträts, die ich je gelesen habe, das ist eine Frau aus Liebe und Musik gemacht, also eine unirdische Frau. Und ihr Vermächtnis ist, also wenn sie nicht mehr da ist, dann steht die Zeit still. Und alles dreht sich doch um Solveig herum, obwohl sie nicht mehr da ist. Ihr Mann, der Vater der Hauptperson, er wird allmählich wahnsinnig und sucht eine Frau in Neuseeland. Er glaubt, dass das seine Frau ist. Und der Anfang des Buches ist: Das Enkelkind von Solveig kommt nach Sunne, um endlich das Weihnachtsoratorium aufzuführen.

Pokatzky: Also sozusagen auch da ein Vermächtnis gewissermaßen. Das alles spielt ja sagen wir mal im ersten Drittel des vorigen Jahrhunderts, ist das auch eine Beschreibung Schwedens? Solveig, die aus Amerika in dieses kleine Dorf gekommen ist, ist das auch so eine Konfrontation – beschauliche, ländliche Idylle – mit der realen Welt draußen?

Sigurdardottir: Ja, man könnte das so sehen. Aber für mich, wenn Sie Schweden erwähnen, dann denke ich an die Natur, und im Buch so wunderbar geschrieben, nicht unbedingt an den Personen. Aber die Zärtlichkeit und diese sinnliche Prosa von Göran Tunström, das ist eigentlich nicht, was man so sehr mit Skandinavien verknüpft. Aber da war er ein Experte auch.

Pokatzky: Ist das denn so eine Wunschwelt vielleicht auch?

Sigurdardottir: Diese Welt gibt es.

Pokatzky: Bullerbü für Erwachsene?

Sigurdardottir: Also diese Welt gibt es, diese unglaublich schöne Welt, und sie kehrt auch wieder hier. Ganz am Ende des Buches, wo die Hauptperson mit seinem Sohn Victor zwei Leutchen im Wald sieht, die Frau malt und sie machen auch Musik und sie sind nackt, und ich meine, diese freie Welt gibt es doch. Und der Mann sagt zu seinem Sohn: Begnüge dich damit, dass du es gesehen hast ein einziges Mal, wisse, dass derlei auf Erden geschehen kann. Also dieses Land, diese Liebe gibt es.

Pokatzky: Göran Tunström war Sohn eines Priesters. Wie weit spielen denn hier auch religiöse Momente in das Buch hinein?

Sigurdardottir: Ich weiß nicht so genau, wie ich das schätzen sollte, aber ich weiß natürlich, dass er von der Kindheit sehr geprägt war und von dem frühen Tod seines Vaters und er auch als Genie wie Ingmar Bergman – Ingmar Bergman war auch ein Sohn eines Priesters – und man weiß, dass natürlich die Kultur das Religiöse bringt. Das ist eine Schatzgrube für diese Leute.

Pokatzky: Er ist ja relativ jung gestorben, mit 62 Jahren. Spiegelt sich in dem Buch, das in den 50er-Jahren ja geschrieben wurde, spiegelt sich da jetzt was auch wider von seinen Vorstellungen von Tod, vielleicht auch von einem Leben nach dem Tode?

Sigurdardottir: Göran Tunström war wie viele Schriftsteller, er hatte sehr Angst vor dem Tod, und er hatte sehr Angst, dass er mit 50 oder so wie sein Vater sterben würde. Glücklicherweise war das nicht passiert, aber er hatte schwere Krankheiten später und war dann in dem Alter, das Sie erwähnen, verstorben.

Pokatzky: 62. Wie haben Sie ihn das letzte Mal erlebt?

Sigurdardottir: Das letzte Mal, dass ich mit ihm gesprochen habe, war November, das war Telefon, und im Februar war er gestorben, und er hat mir Details über seine Krankheit und seinen Zustand erzählt. Und dann hat er gesagt: Ich kann nur hoffen, dass es schnell geht am Ende. Und dann hatte Göran Tunström einen außergewöhnlichen Tod – er war in seiner schönen Wohnung in Södermalm in Stockholm, und er hatte Abendessen gemacht, wie er so gern machte für seine Freunde, und eine lustige Geschichte wurde erzählt und Göran Tunström hat gelacht und dann war er weg.

Pokatzky: "Solveigs Vermächtnis" ist gewissermaßen das Vermächtnis von Göran Tunström für uns. Das ist ein Erbe, das er uns hinterlassen hat, ein literarisches Erbe. Warum finden Sie, dass ausgerechnet dieses Buch in einen europäischen Kanon gehört, das jeder Europäer gelesen habe sollte?

Sigurdardottir: Also, es ist immer leichter zu sagen, was an einem Buch fehlt, als zu sagen, warum ist das Buch ein Meisterwerk, warum ist das Buch so gut. Und hier kann ich einfach sagen, also ich weiß nicht, inwiefern es mit Europa zu tun hat, es hat mit der Welt zu tun, alle Leute auf der Welt sollten das Buch lesen. Und die Stichworte sind diese sinnliche Prosa, die Zärtlichkeit, diese unglaubliche Mischung von Humor und Tragik. Und wenn die große Tragik in diesem Buch im Licht des Humors gesehen ist, wird sie noch schärfer. Und dann die Themen des Buches, die Liebe, die Musik, Wahnsinn, Trauer, Tod – also das sind Riesenthemen. Und wie er das alles komponiert und verknüpft, das ist unvergleichbar. Und dieses Buch bleibt noch immer eines der besten und wundervollsten Romane, die ich je gelesen habe.

Pokatzky: Danke, Steinunn Sigurdardottir! Wir durften sprechen über das Buch des schwedischen Schriftstellers Göran Tunström, "Solveigs Vermächtnis". Es ist früher mal bei Hoffmann und Campe – Sie haben es angesprochen – erschienen, als Hardcover, dann ist es bei Rowohlt als Taschenbuch erschienen, leider jetzt bei beiden Verlagen vergriffen, man muss also in Antiquariate gehen, oder aber man geht in ein berühmtes Internet-Auktionshaus, dort gibt es jetzt noch ein einziges Exemplar als Taschenbuch für 41,85 Euro, was ein sensationeller Preis da ist und natürlich auch etwas sagt über diese Rarität dieses Buches. Und ein Buch darf ich aber noch nennen, das sehr wohl in der Buchhandlung zu erwerben ist, und zwar das jüngste Buch von Steinunn Sigurdardottir, "Sonnenscheinpferd", es ist im Rowohlt-Verlag erschienen, auch als Taschenbuch.