Eine Straße durch die Geschichte

06.08.2009
Mag die Straße mit ihren Abzweigungen, Seitenwegen, Plätzen und Kreuzungen eine historische Nebenerscheinung sein - die Annäherung an ihre Geschichte kann allemal spannend sein. Allerdings auch gähnend langweilig. Die Frühzeit nimmt in dem Sammelband, worin 19 Autoren aus Irland, England, Frankreich, Spanien, Italien, Österreich und hauptsächlich Deutschland Ergebnisse ihrer Forschungen präsentieren, viel Platz ein.
Wenn eines in dem Buch wirklich sensationell ist, dann die von Barry Raftery beschriebenen Funde. Titel seines Beitrags: "Archäologie der vor- und frühgeschichtlichen Bohlenwege Irlands". Raftery hat Rettungsarbeit geleistet. Denn die Moore in Irland werden immer mehr liquidiert durch großflächige Entwässerung und steigenden Torfabbau, so dass damit auch die hölzernen Wege, die das Moor konserviert, und die zum Teil weit unter liegen, verschwinden.

Trotzdem hat der Verfasser seit 1985 systematische Ausgrabungen an den Moorwegen begonnen, und er betreibt sie bis heute. Resultat: Er entdeckte an die 1000 Bohlenwege, darunter verschiedene Wegetypen, die die Bewohner der Insel von der Bronzezeit bis hinab ins erste vorchristliche Jahrhundert gebaut haben. Von den über 60 genauer untersuchten und datierten Bohlenwegen gehört die älteste, mit dünnen längs gelegten Hölzern belegte und als Fußweg dienende Verbindung in die Mitte des vierten Jahrtausends vor Christus.

Der Band präsentiert diese grandiosen Funde in Schrift und Foto. Da kommt uralte Geschichte zu uns herauf und wird nachvollziehbar, was man von manch anderen Beiträgen nicht unbedingt sagen kann. Interessant immerhin die folgenreiche Feststellung, dass die Straße mehr als die Straße ist. Denn dieselben führen die sie begleitenden Räume und Strukturen mit.

Ralf Johannes Lilie gibt dazu ein schlagendes Exempel: Er schaut ins Jahr 1071 und beschreibt den Marsch des 60.000 Mann starken byzantinischen Heeres auf dem Weg zur Schlacht bei Mantzikert und beziffert den riesigen Tagesbedarf dieser Armee an Nahrungsmitteln und Wasser. Sie hätte pro Tag etwa 78.000 Kilogramm Nahrungsmittel verbraucht, Wasser nicht eingerechnet. Der durchschnittliche Verbrauch einer Armee auf dem Marsch sei eine geradezu typische Straßennutzung.

Byzanz, schätzt der Autor, wäre im zehnten Jahrhundert eine Großstadt mit zwischen 40.000 und einer halben Million Einwohnern gewesen, Raum mit einem entwickelten Straßensystem. Aus gesicherten Quellen gehe hervor, dass einmal die Kaiser den Straßenraum wie das Hippodrom für ihre theatralische Selbstdarstellung genutzt hätten, zum anderen die Straße auch ein Ort der Konfrontation zwischen Kaiser und Bevölkerung gewesen war. Dies ist eine der spärlichen Stellen im Buch, wo die Straße als soziales Konfliktfeld, überhaupt als gesellschaftlicher Raum, eine Rolle spielt.

Objektives Problem: die unzureichende Quellenlage. Die Straße im Früh- und Hochmittelalter bleibt weitgehend im Dunkeln. Allenfalls über bildkünstlerische und Schriftmedien, auch über die sich vor allem in England herausbildende Kartografie könne man sich ein ungefähres Bild verschaffen. Die gesamte Schrift klärt über quellenkundliche Probleme und Forschungslücken auf. Aufklärerisch ist sie darum nicht.

In frühen Tagen gebaut als Verbindungslinien zwischen Städten und Dörfern dienten Straßen dem Warentausch, der persönlichen Kommunikation und so weiter, aber auch der Vergnügung, der Lustwandlung - denken wir an die mittelalterlichen Karnevalszüge, die in halb Europa bekannt wurden: Aspekte, die, wie das Banditen- und Rebellenwesen, das zu allen Zeiten die Straße verunsichert hat, in dem Buch nicht vorkommen.

Gleichfalls kein Thema: Nachforschungen über die Wege der großen Völkerwanderungen. Waren es die robusten Magistralen wie die "Via Appia", die durch Südeuropa führten oder die unwegsamen, schäbigen? Nicht zuletzt fehlen Fallstudien über das Leben der vielen, die - ohne Obdach - in den Städten auf der Straße vegetieren mussten.

Solche Straßen sind eine Massenerscheinung, sie schreiben Geschichte bis zum heutigen Tag. Kein Zweifel: Im antiken Rom fanden Straßensysteme ihre erste Blüte, das beschreibt das Buch plastisch. Aber die Jetzt-Welt ist unvernünftig, sie überzieht die Erde mit immer dichter werdenden Straßen- und Verkehrsnetzen zu Lande, zu Wasser und in den Lüften. Ein multidimensionales Verkehrssystem überlagert, durchdringt, stört, zerstört das nächste, wenn nichts dagegen gemacht wird - so lange bis das Ganze zusammenbricht. Auch darüber verliert die bis in die Neuzeit führende Schrift kein Wort.

Besprochen von Stefan Amzoll

Thomas Szabo (Hg.): Die Welt der europäischen Straßen - von der Antike bis in die frühe Neuzeit
Böhlau Verlag, Köln 2009
378 Seiten 47,90 Euro