Eine Stadt und ihre Namen - Chemnitz

"Ich war mit Leidenschaft Karl-Marx-Städter"

17:10 Minuten
Das vom sowjetischen Bildhauer Lew Kerbel geschaffene Monument von Karl Marx, nach dem Chemnitz im Jahr 1953 in Karl-Marx-Stadt umbenannt wurde. Aufnahme vom 09.11.1971.
Das vom sowjetischen Bildhauer Lew Kerbel geschaffene Monument von Karl Marx. Hier 1971. © picture alliance / dpa / Zentralbild / ADN
Von Alexandra Gerlach · 08.01.2020
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Die SED-Führung machte kurzen Prozess. Ohne große Vorwarnung wurde Chemnitz 1953 in Karl-Marx-Stadt umbenannt. Nach 1989 wieder die Umbenennung. Und heute? Wie viel Karl-Marx-Stadt steckt noch in den Köpfen?
"Ich heiße Jörg Ivandic, bin ich Chemnitz geboren worden 1949, und habe dann in Karl-Marx-Stadt gelebt und lebe nun schon wieder Jahrzehnte in Chemnitz."
Besucherin: "Eigentlich habe ich fast die längere Zeit meines Lebens in Karl-Marx-Stadt verbracht, also zumindest die aktive Zeit, als man arbeiten gegangen und zur Schule gegangen ist. Ich kann aber nicht sagen, dass mich das eine angehoben hat oder auch das andere nicht. Der Name spielte bei mir wirklich nicht die Rolle, wie das manche so sagen, der spielte nicht die Rolle!"
Besucher: "Karl-Marx-Stadt verbinde ich eigentlich viele, viele Jahre als meine Heimatstadt."
Chemnitz am 01. Januar. Die Mozartgesellschaft hat zu einem Neujahrskonzert geladen. Mehr als 100 Musikliebhaber sind der Einladung in die Villa Esche gefolgt. Die Jugendstilvilla war ehemals im Besitz eines namhaften, vermögenden Chemnitzer Strumpffabrikanten. Zu DDR-Zeiten völlig verkommen und nach dem Mauerfall liebevoll saniert und restauriert steht sie heute beispielhaft für den Vorkriegsstolz und Wohlstand der Chemnitzer, in der einst reichsten Stadt Deutschlands:
"Mit deutlichem Repräsentationsanspruch, der aber wie ich es gerne sage, so Ingenieursgebremst ist und nicht so der Pfeffersack, der reiche Kaufmann, der Händler in Leipzig. Es ist eher alles ein bisschen zurückgenommen, aber mit einer großen Energie. Und das ist eben dann `45 bei dem großen Bombardement zumindest in der Innenstadt fast, fast vollständig zerstört worden."


Jörg Ivandic ist gebürtiger Chemnitzer. Der 70-Jährige hat Geschichte und Kunstgeschichte studiert, war kurzzeitig Lehrer, bis er mit dem DDR-System in Konflikt geriet und seine Arbeit verlor. Die Revolution von 1989 und den Mauerfall hat er aktiv mitgestaltet, fand danach Arbeit in den Chemnitzer Kunstsammlungen und macht heute Führungen in seiner Heimatstadt.
Blick auf die Zschopauer Straße in Chemnitz, 1910.
Chemnitz war an der Schwelle des 19. zum 20. Jahrhundert die reichste Stadt Deutschlands. Hier die Zschopauer Straße, 1910.© imago/Arkivi
"Ich bin `49 geboren, `53 war die Umbenennung, die hat mich nicht erreicht, für mich war es Karl-Marx-Stadt, ich sah dann bloß später mal auf Karten, dass in der Bundesrepublik – alt – noch eine Zeitlang Chemnitz war, dann erschien dort der Schriftzug drunter klein und in Klammern ´Karl-Marx-Stadt`, dann rückt an die obere Stelle ´Karl-Marx-Stadt` in Klammern, klein drunter Chemnitz und dann war Chemnitz ganz verschwunden, das heißt, es war angenommen worden."
Die Umbenennung der traditionsreichen Arbeiter- und Industriestadt Chemnitz erfolgte 1953, in dem vom Zentralkomitee der SED ausgerufenen Karl-Marx-Jahr. Der offizielle Staatsakt fand unmittelbar nach der 2. Parteikonferenz der SED in Chemnitz statt. Die Parteiführung der jungen DDR war zu dem Schluss gekommen, dass es einer ideologischen Offensive zur Durchsetzung des Sozialismus bedürfe. Ein Mittel zum Zweck war die Schaffung sozialistischer Städte. So wurde zunächst am 08. Mai 1953 das neue, an der Oder gelegene Eisenhüttenkombinat mit seiner modernen, sozialistisch geformten Retorten-Wohnsiedlung "Stalinstadt" getauft. Zwei Tage später – am 10. Mai 1953 – wurde aus Chemnitz "Karl-Marx-Stadt". Der heute 85-jährige gebürtige Chemnitzer, Werner Thiele erinnert sich:
"Ich war zu dieser Kundgebung, ich sehe mich noch mit dem Rücken zu den Ruinen Königstraße stehen und die Tribüne war Richtung Roter Turm, und was ich fest im Blick habe, am Rathaus oben hatten sie am Giebel ´Karl –Marx-Stadt` dran geschrieben."

Namensänderung ohne Vorwarnung

Werner Thiele ist einer der wenigen noch lebenden Zeitzeugen des Festaktes, bei dem DDR-Ministerpräsident Otto Grotewohl vor rund 180.000 Teilnehmern die Umbenennung verkündete:
"Einwohner der Stadt Chemnitz! An diesem für Euch und Eure Stadt so bedeutungsvollen Tage, an dem auf Empfehlung der sozialistischen Einheitspartei Deutschlands der Partei der deutschen Arbeiterklasse Chemnitz den ehrenvollen Namen Karl-Marx-Stadt erhalten soll! Die Verleihung des Namens Karl Marx ist darum für die Chemnitzer Arbeiterschaft und für die gesamte deutsche Arbeiterklasse eine hohe Ehre, aber auch eine große Verpflichtung!"
Werner Thiele ist zu diesem Zeitpunkt 18 Jahre alt und hat gerade ausgelernt als Fleischer:
"Ob die gejubelt haben, oder geklatscht haben oder was? Ich war mit mir beschäftigt, ich habe mit mir zu tun gehabt und habe damals dem Namen erstmal nachgetrauert."
Proteste gab es kaum. Die Chemnitzer hatten erst wenige Tage zuvor von der Namensänderung ihrer Stadt erfahren. Eine Möglichkeit zu widersprechen gab es nicht. Zudem, so erinnert sich der verstorbene DDR-Schriftsteller Erich Loest 1983 in einem Interview mit RIAS Berlin, seien viele Arbeiter- und Gewerkschaftsfunktionäre in der viertgrößten Stadt der DDR, stolz auf die neue Namensgebung gewesen, denn:
"Es war die kurze Phase des Aufbaus des Sozialismus, den die 2. Parteikonferenz verkündet hatte und die ja dann einige Wochen nach dieser Umbenennung mit dem neuen Kurs zu Ende ging und dann kam ja der 17. Juni gleich. Also es war die Zeit eines schnellen Umbruchs, eines schnellen politischen und wirtschaftlichen Umbruchs."
Dennoch herrschte ein gewisses Grummeln unter den alteingesessenen Chemnitzern, die freies Unternehmertum und eine florierende Wirtschaft aus Vorkriegszeiten gewöhnt waren. Diesen, wie die SED sie bezeichnete, "Ewiggestrigen" rief Otto Grotewohl am 10. Mai 1953 zu:
"Hier leben Bürger der Deutschen Demokratischen Republik! Hier leben Marxisten! Sie schauen mit Liebe und Verehrung auf den Begründer der sozialistischen Lehre, auf den größten Sohn des Deutschen Volkes, auf Karl Marx."
Werner Thiele erinnert jedoch auch, dass bereits kurz nach dem Festakt auch ein Witz kursierte, der auf die kurze Verfallsdauer des neuen Städtenamens anspielte:
"Als man dann sagte, wenn Pieck und Ulbricht durch die Wolken sch…, dann wird Karl-Marx-Stadt wieder Chemnitz heißen. Das war unmittelbar danach!"


Fast 40 Jahre sollte es dauern, bis im Revolutionsherbst 1989 die Diskussion um eine Rückkehr zum alten Stadtnamen begann.
Wendezeit in Karl-Marx-Stadt. 6.3.1990, zwei Frauen mit einer DDR-Flagge in der Hand.
Mit der Wende kamen Forderungen nach der erneuten Umbenennung der Stadt. Hier zwei demonstrierende Frauen im März 1990.© imago/HärtelPRESS/Harry Haertel
"Der Name meiner Stadt, in der ich wohne, hat Gewicht. Das ist für mich wichtig, ich möchte auch mit diesem Namen verbunden sein, wenn ich irgendwo auftauche. Das war also eine sehr große Zahl, die gesagt haben, wenn wir schon die Chance haben, wieder an diesen Namen und die Geschichte anzuknüpfen, dann wollen wir es tun!"

Volksbefragung sollte Klarheit bringen

So erinnert sich Christoph Magirius, der damalige Superintendent der evangelischen Kirche in Karl-Marx-Stadt.
Die "Initiative Chemnitz" startete im Frühjahr 1990 eine Bürgerbefragung, erinnern sich diese zwei Chemnitzerinnen beim Neujahrskonzert.
"Da war eine Volksbefragung."
"Ja, da war eine Abstimmung. Ja, das ist richtig, und wir wollten alle Chemnitz wiederhaben. Warum? Weil wir alle in Chemnitz geboren sind. Die Älteren waren ja in Chemnitz geboren."
"Ich gehöre zu denen, die in Karl-Marx-Stadt geboren sind, aber mir hat trotzdem Chemnitz besser gefallen."
Am 23. April 1990, ein halbes Jahr vor der Wiedervereinigung, gab es ein klares Votum. 76 Prozent der Bürger stimmten für die Rückbenennung ihrer Stadt. Karl-Marx-Stadt hieß wieder Chemnitz, zahlreiche Umbenennungen von Straßen und Schulen folgten. Für den evangelischen Pfarrer Christoph Magirius bleibt ein Wermutstropfen:
"Der Gedanke des Sozialismus ist je etwas ganz wichtiges in der Menschheit. Und sich sofort zu verabschieden von diesen Gedanken und dort einen Schnitt zu machen und zu sagen, damit will ich nichts mehr zu tun haben, finde ich schade und bedenklich."
Was bleibt? Frage an den 86-jährigen Werner Thiele:
"Tja, das frage ich mich jetzt auch. Ich will mal so sagen: ich liebe meine Stadt! Ich bin mit Lust, Liebe und Leidenschaft Chemnitzer. War aber auch 40 Jahre mit Lust, Liebe und Leidenschaft Karl-Marx-Städter. Das war mein Leben!"
Geblieben ist auch der mächtige Karl-Marx-Kopf, liebevoll respektlos "Nischel" genannt, der als imposante, kunstvolle Skulptur seit Oktober 1971 das Stadtzentrum ziert.
Chemnitzerin: "Er gehört zur Stadtgeschichte dazu."
Chemnitzer: "Sagen wir mal so: Er kennzeichnet diese Episode, die zwischenzeitlich war. Das ist auch für Chemnitz etwas Prägendes, nicht nur für die Karl-Marx-Städter und er signalisiert eine Zeit, die für die Zeit schon, ob positiv oder negativ, aber bestimmend war."
Chemnitzerin: "Ja, den geben wir auch nicht her!"

Schloss und Ort in Neuhardenberg im Land Brandenburg wurden 1945 umbenannt. Aus Neuhardenberg wurde Marxwalde. Nach der Wende wurde es wieder Neuhardenberg. Das Schloss erlebt seitdem eine neue Blüte als Leuchtturm der Kultur, wie Landeskorrespondentin Vanja Budde berichtet.
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