"Eine Politik, die auf Innovation und Fairness setzt"

Christian Lindner im Gespräch mit Christoph Gehring und Ernst Rommeney |
Der Generalsekretär der nordrhein-westfälischen FDP und künftige Bundestagsabgeordnete Christian Lindner verteidigt die Vorhaben der neuen schwarz-gelben Bundesregierung.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben 19,1 Prozent im rheinisch-bergischen Land, ihrem Wahlkreis, für die FDP geholt, mehr als FDP insgesamt im Bund oder auch in Ihrem Land geholt hat. Fürchten Sie, jetzt Ihre Wähler zu enttäuschen?

Christian Lindner: Warum? Die Wähler haben uns gewählt für eine Politik, die auf Innovation und Fairness setzt. Ich hab den Eindruck gewonnen, dass die Koalitionsverhandlungen jetzt schon gezeigt haben, dass wir beide Versprechen, eine innovative und eine faire Politik zu machen, einlösen können. Das sind auch Rückmeldungen, die ich von meiner Basis erhalte.
Deutschlandradio Kultur: Wo ist denn die Innovation, wenn man Ausgaben verspricht und nicht sagt, wie man sie finanziert?

Christian Lindner: Wir haben jetzt natürlich noch nicht einen Kassensturz abgeschlossen. Wir haben auch noch nicht einen Haushalt aufgestellt, sondern wir haben Richtungen beschrieben für die kommenden vier Jahre. Und da sind innovative Ansätze drin. Nehmen Sie beispielsweise das neue nationale Stipendiensystem, auf das wir uns verständigt haben. Das ist, wie die "ZEIT" in dieser Woche geschrieben hat, die größte Innovation in der Bildungsfinanzierung seit Einführung des Bafög.

Und auch im Bereich der Fairness sehe ich, dass wir einen Akzent haben setzen können. Wir haben das Schonvermögen für die Empfänger von Arbeitslosengeld II erhöht und damit auch Sicherheit all denjenigen gegeben, die in der Krise möglicherweise Befürchtungen hatten, was ihre eigene Zukunft angeht.

Deutschlandradio Kultur: Aber die Regelung des Schonvermögens war doch mehr eine psychologische Pille. Weil die Zahl derer, die es betrifft, ist wahrscheinlich gering.

Christian Lindner: Sie wissen, dass 50 Prozent einer erfolgreichen Wirtschaftspolitik auch Psychologie ausmacht. Selbstverständlich geht’s darum, Ängste aufzunehmen. Sie können doch ein Land im Wandel nur dann auch erfolgreich in die Zukunft führen, wenn Sie Menschen mitnehmen, wenn Sie ihnen eine Sicherheit garantieren, auch Veränderungsprozesse ohne eigenen Nachteil auch gestalten zu können. Und die Anhebung des Schonvermögens ist gerade für diejenigen, die einen sozialen Abstieg in einer sich wandelnden Zeit befürchten, ein ganz wichtiges psychologisches Signal gewesen, das die Veränderungsbereitschaft, das die Flexibilität erhöht. Bin ich tief von überzeugt.

Deutschlandradio Kultur: Aber ich will nicht unfair sein …

Christian Lindner: Dann sein Sie es nicht!

Deutschlandradio Kultur: … aber das Thema Stipendien oder auch Schonvermögen sind zwei Themen auf einer langen Liste. Sie sind angetreten mit Steuerreform, mit Bürgergeld und natürlich auch, wir wollen das gegen finanzieren mit kräftigen Ausgabenkürzungen. Also mit großen Themen. Aber davon kommt doch nichts.

Christian Lindner: Na, es waren zwei Belege, die exemplarisch deutlich machen sollten, wie die neue Richtung dieser Koalition sein soll, mit zwei, wie ich finde, wichtigen Schlüsselbegriffen. Im großen Bild ergibt sich aber eine Lage, die vergleichbar ist. Die Koalition versteht sich darauf, Staat und privat in eine neue Balance zu bringen. Dazu gehört es, dass wir die Bürgerinnen und Bürger entlasten - von Steuern, von Sozialabgaben, aber auch von Bürokratie - und dass wir gleichzeitig die öffentlichen Haushalte wieder stabilisieren in einer Krisenphase.

Weil wir eine Wirtschaftskrise haben, die in der jüngeren Geschichte, mindestens in der jüngeren Geschichte ohne Bespiel ist, brauchen wir dafür eine ganze Legislaturperiode, um die unterschiedlichen Ziele zu erreichen. Aber ich bin davon überzeugt, dass wir diese Ziele erreichen werden und dass mit den Maßnahmen, die jetzt beschlossen und angekündigt worden sind, wir auf der Strecke der Periode auch unsere Meilensteine einfahren werden.

Deutschlandradio Kultur: Das sind ja nicht nur verschiedene, sondern sich entgegenstehende Ziele.

Christian Lindner: Nein.

Deutschlandradio Kultur: Man kann doch nicht einen Haushalt sanieren, wenn man gleichzeitig auf Einnahmen in zweistelligem Milliardenbetrag verzichtet.

Christian Lindner: Ja, Ihre Voraussetzung ist ja, dass ein niedriges Steuersystem, das eine vergleichsweise geringe individuelle Belastung hat prozentual am Einkommen, dass ein solches Steuersystem gesamtstaatlich zu geringen Einnahmen führen würde. Ich mache Ihre Voraussetzung aber nicht mit, sondern im Gegenteil. Ein Steuersystem, das Leistungsanreize bietet, nicht nur für den Spitzenverdiener, sondern auch für Geringverdiener und Bezieher mittlerer Einkommen, das führt gesamtstaatlich zu mehr Einnahmen.

Dafür haben wir auch historische Belege in Deutschland. Nehmen Sie etwa die Steuerreform Eichel 2005. Ich rede jetzt nicht von der Körperschaftssteuerreform der Großen Koalition. Das war nicht gut. Das hat ja zu Einnahmeausfällen geführt. Aber die Senkung der Einkommenssteuer hat gesamtstaatlich zu einem höheren Steueraufkommen geführt.

Ich denke an das Jahr 87/88 - Steuerreform Stoltenberg/ Lambsdorff damals: erhebliche Entlastung der Bürgerinnen und Bürger, im nächsten Jahr Steuermehreinnahmen, weil es eine neue Dynamik im Land gab. Das wollen, das müssen wir uns jetzt erarbeiten. Die Hörer werden genauso sich fragen müssen: Glaube ich eher daran, dass höhere Steuern, steigende Abgaben und mehr Bürokratie zu einer neuen Dynamik führt? Oder vertraue ich nicht darauf, dass geringere Steuersätze, eine kontrollierte Sozialabgabenquote und eine Entlastung von Bürokratie zu neuer Dynamik führen? Ich glaube, die Mehrheit wird der zweiten Alternative zuneigen.

Deutschlandradio Kultur: So weit, so gut, aber am Anfang der Steuerdiskussion in den Neunzigerjahren erinnere ich mich an die Mahnung der Steuerrechtler, die sagten: Trennt bitte das Steuersenken von der Steuerreform. Man kann ein Steuergesetzbuch neu formulieren und auch transparenter machen. Man muss aber nicht unter dem Strich weniger Einnahmen für den Staat generieren.

Das ist doch jetzt Ihr Problem. Sie haben Steuersenkungen versprochen. Und da Sie sie nicht so bekommen, wie Sie sich es vorstellen, ist auch eine Steuerreform nicht möglich, obwohl Sie sie gerne machen wollen. Das ist doch Ihr Problem. Wo machen Sie das bessere Steuerrecht, ohne dass Sie eine Lücke in den Haushalt reißen?

Christian Lindner: Ich glaube dabei, dass wir beide Ziele ansteuern müssen. Gleichwohl finden sich in den Vorschlägen und in den Beschlüssen der neuen Koalition zahlreiche Punkte, wo das Steuerrecht vereinfacht wird, wo es auch von inneren Widersprüchen befreit wird. Ich nehme etwa das Unternehmenssteuerrecht, wo wir in der Gewerbesteuer ja die große Neuerung unter der Großen Koalition erlebt haben, dass man in der Bemessungsgrundlage der Gewerbesteuer inzwischen Mieten, Zinsen und Pachten wieder findet. Das sind aber Kosten.

Das heißt, wir haben in Deutschland die - ich traue mich zu sagen - "perverse" Situation, dass wir auf Aufwand für Betriebe Steuern erheben. Wir haben Formen der Mindestbesteuerung, wo Unternehmen, die Verluste schreiben, trotzdem Steuern an den Staat zahlen müssen. Also, das sind Dinge, die beseitigt werden können. Ich kann weitere Beispiele anführen, die eigentlich nicht zu großen Einnahmeausfällen beim Staat führen, die aber trotzdem das Steuerrecht handhabbarer machen und es von inneren Widersprüchen befreien.

Deutschlandradio Kultur: Aber wenn ich diese Liste, dieses Kleinklein, die da reingereicht worden ist, auch von den Wirtschaftsverbänden, nehme und mir als Steuerzahler angucke, dann sage ich, die Wirtschaft, wenn ihr diese Wünsche erfüllt werden, klinkt sich aus der Gegenfinanzierung vergangener Reformen aus. Das ist Klientelwirtschaft. Und FDP haftet dieses Etikett ja immer wieder an. Ist das nicht unangenehm?

Christian Lindner: Ich sehe da keine Klientelwirtschaft. Eine Partei, die sich bemüht, die Hürden für die Annahme von neuer Beschäftigung zu reduzieren, die dafür sorgt, dass es in Deutschland insgesamt neue Wachstumsdynamik gibt und dadurch auch Wohlstand für alle möglich macht, die betreibt Klientelpolitik für 82 Millionen Deutsche.

Deutschlandradio Kultur: Diejenigen, die relativ viel Steuern zahlen müssen, werden entlastet. Nun gibt es oben Freiberufler zum Beispiel, die sich mit einem halbwegs guten Steuerberater sowieso in die Nähe einer Steuerlast null bringen können. Dann gibt es diesen so genannten Mittelstand, den Sie entlasten wollen.

Und dann gibt es relativ viele Leute, die gar keine Steuern zahlen, weil sie so wenig Geld verdienen. Und genau die ziehen Sie zur Gegenfinanzierung ran, indem Sie einen Teil der Sozialabgaben privatisieren und die Arbeitgeber da aus der solidarischen Finanzierung von Krankenversicherung, Pflegeversicherung entlassen. Das ist Klientelpolitik.

Christian Lindner: Ja, aber Ihr Bild ist nicht richtig. Ihre Schlussfolgerung mag richtig sein, aber das Bild ist falsch. Insofern stimmt der Vorwurf insgesamt auch nicht. Wir können die Sache gern auseinander sortieren.

Deutschlandradio Kultur: Au ja.

Christian Lindner: Was den Freiberufler, von dem Sie gesprochen haben, angeht, der sich mit seinem Steuerberater nahe null bei seinem zu versteuernden Einkommen rechnen kann, da sage ich Ihnen und diesem Freiberufler: Wir als FDP wollen das Steuerrecht ja so einfach machen, auch von Ausnahmetatbeständen weiter bereinigen. Es hat da schon Schritte gegeben durch die Große Koalition, auch schon durch Rot-Grün.

Wir wollen das weiter vereinfachen, so dass es eben nicht möglich ist, auf der administrativen Seite Einkommen zu verschleiern und dadurch Steuererleichterungen sich zu erwirtschaften, sondern im Gegenteil, lieber für diesen Freiberufler einen fairen Steuersatz ausloben, auch einen fairen Spitzensteuersatz, der dann aber gezahlt werden muss, bitteschön.

Und was die Bezieher von kleinen Einkommen angeht, da ist Ihre Sichtweise richtig, dass für die natürlich die Steuerfrage nicht entscheidend ist, mindestens nicht die direkten Steuern. Für die ist die Frage Mehrwertsteuer entscheidend. Dort hat die Große Koalition bedauerlicherweise ja zu einer Mehrbelastung geführt. Da sind die Sozialabgaben entscheidend. Bei den Sozialabgaben stehen wir jetzt vor der großen, ich sage, historischen Aufgabe, dass wir die Leistungsfähigkeit unserer sozialen Sicherungssysteme erhalten müssen.

Das betrifft das Gesundheitssystem, betrifft die Pflege in einer zunehmenden Weise noch. Wir werden älter und Gott sei Dank leben wir länger. Dadurch steigt die Pflegebedürftigkeit an. Das betrifft auch die Alterssicherung. So, wir müssen das also leistungsfähig halten. Wir müssen es aber auch finanzierbar halten, damit insbesondere die jüngere Generation nicht überproportional belastet wird.

Und wir haben ein drittes Ziel zu erreichen. Da unsere Sozialabgaben von Arbeitnehmern wie Arbeitgebern finanziert werden, führen die allfälligen Kostensteigerungen, weil es mehr Bedürftige gibt, mehr Pflegebedürftige etwa, und weil es einen höheren Leistungsanspruch gibt, höhere Qualität, führt das zu Kosten, die auch von Arbeitgebern mitgetragen werden müssen, die auf den Faktor Arbeit aufgeschlagen werden.

Dann wird aber Arbeit in Deutschland teurer, ohne dass damit ein Produktivitätsfortschritt verbunden wäre, sprich: Unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit verschlechtert sich gerade zu Lasten derjenigen, die in diesem weltweiten Qualifikationswettbewerb vielleicht sich nicht an der ersten Stelle mit behaupten können, die nicht topp qualifiziert sind. Und deren Jobs werden dann bedauerlicherweise weg rationalisiert. An vielen Stellen haben wir das erlebt. Dafür gibt’s das zynische Wort der Volkswirte, der so genannten "Entlassungsproduktivität", ein zynisches Wort, das diesen Umstand beschreibt.

Und um diesen Prozess, diese Spirale nicht weiter zu beschleunigen, ist es notwendig, die Finanzierung der Sozialversicherungssysteme stärker vom Faktor Arbeit zu trennen.

Deutschlandradio Kultur: Das ist ja so weit auch gut und richtig, aber die Kehrseite ist doch, dass sowohl in der Krankenversicherung, als auch in der Pflegeversicherung der Versicherte damit rechnen muss, dass er einen höheren Eigenbeitrag zahlt. Entweder muss er eine Zusatzpflegeversicherung abschließen oder aber er muss in der Krankenversicherung höhere Beiträge akzeptieren und mehr Eigenleistung. Das trifft den Mittelstand weniger hart als denjenigen, der kein Geld hat. Das könnten Sie über Steuern regeln wollen. So war es ja auch in der Gesundheitsprämie vorgesehen. Nur dafür haben Sie kein Geld.

Christian Lindner: Wir haben jetzt ja schon einen erheblichen Steuerzuschuss zu allen Sozialversicherungssystemen. Das ist ein Bereich, der übrigens auch mit finanziert wird von denjenigen, die gar nicht gesetzlich versichert sind, respektive von Unternehmen, was aus dem allgemeinen Steuertopf fließt. Das hat auch den Beitrag reduziert. Bitte vergessen Sie nicht, dass ab dem Jahr 2010 Sozialversicherungsbeiträge auch steuerlich geltend gemacht werden können. Das entlastet zusätzlich.

Deutschlandradio Kultur: Aber nicht die Armen.

Christian Lindner: Wenn es da ganz individuell Probleme gibt bei der Finanzierung, haben wir als FDP immer gesagt, dass wir bereit sind, über ein Bürgergeldmodell oder eine andere Form der Unterstützung auch denjenigen zu helfen, die sich einen versicherungsmathematisch errechneten Beitrag, eine Prämie nicht leisten können. Und dabei bleibt es auch.

Deutschlandradio Kultur: Christian Lindner, der Generalsekretär der FDP in Nordrhein-Westfalen spricht heute mit uns Tacheles und wir mit ihm.
Sie sind gerade mal 30. Freuen Sie sich denn aufs Jahr 2039? Dann sind Sie 60 und zahlen immer noch für die Schulden, die diese neue Regierung machen möchte, bevor sie überhaupt angefangen hat zu regieren.

Christian Lindner: Es ist leider so, dass man immer die Schulden der Vergangenheit bezahlen muss. Deshalb ist es notwendig, dass wir insgesamt zu einer anderen öffentlichen Haushaltsführung kommen, dass wir den Staat auf Kernaufgaben begrenzen, ihn da aber leistungsfähig machen, und dass wir in der Lage sind, eine Wirtschaft zu haben, die prosperiert und die in der Lage ist, dadurch die Aufgaben des Staates zu reduzieren, etwa im Sozialbereich, weil sie Menschen Arbeit gibt, damit Menschen auf eigenen Beinen stehen können, und wir ein Wirtschaftswachstum haben, das dem Staat erlaubt, seine Schulden zurückzuführen. Das ist die Aufgabe.

Deutschlandradio Kultur: Zusammengefasst heißt das ja: Sozial ist, was Arbeit schafft. Aber es gibt doch immer mehr prekäre Arbeitsverhältnisse, in denen Menschen zwar acht oder zehn Stunden am Tag arbeiten und trotzdem nicht genug Geld verdienen, um über die Runden zu kommen, und dann doch Hartz-IV-Aufstockung brauchen. Wie wollen Sie denn das Problem lösen? Mindestlöhne lehnen Sie ja auch ab.

Christian Lindner: Sie haben gerade, Herr Gehring, schon mal ein gutes Instrument genannt. das ist durch die Agenda 2010 in Deutschland geschaffen worden, die Möglichkeit des Lohnzuschusses über das ergänzende Arbeitslosengeld II. Das kann man jetzt diskreditieren, so wie Sie das gesagt haben, man kann es aber auch aus einer anderen Perspektive sehen. Aufgeklärte Sozialdemokraten des dritten Weges nennen das eine Form der Aktivierung, Menschen nicht zu Hause zu lassen, sie stillzulegen mit einer Prämie, mit einem Taschengeld, sondern zu belohnen, wenn die auch für einen kleinen Job aufstehen und im Erwerbsleben sind, draußen sind, dadurch auch Kontakt haben, das Gefühl haben, sie werden gebraucht.

Und was wir jetzt erreichen müssen mit dieser Idee der aktivierenden Sozialhilfe, ist, dass der Umstieg von kleinen Jobs in reguläre Beschäftigung besser gelingt. Und da haben wir Probleme gehabt, dass man mit einem Minijob und ergänzendem Arbeitslosengeld II zu selten dann den Sprung in den ersten Arbeitsmarkt geschafft hat, weil die Grenzen zu streng waren. Es war nicht möglich, dann einen zweiten Minijob dazu zu nehmen und dann langsam, aber sicher, in den ersten Arbeitsmarkt aufzuwachsen.

Und das wollen wir verändern. Wir haben gemeinsam mit CDU-CSU auf Initiative der FDP ja vereinbart, dass die Zuverdienstgrenzen leistungsorientierter sind, dass also der Übergang in den ersten Arbeitsmarkt fließender gelingt, dass wir auch im Bereich der geringfügigen Beschäftigung zu Erleichterung und Flexibilisierungen kommen, um diese Brücke in den ersten Arbeitsmarkt für mehr Menschen gangbar zu machen.

Deutschlandradio Kultur: Aber, genau gesagt, haben Sie dieses Thema doch vertagt. Denn das, was Sie selbst vorschlagen im Bürgergeld, ich sage mal, Stichwort "negative Einkommenssteuer", also ein fließender Tarif, der ist ja nicht verabschiedet. Der ist vertagt in den Ausschuss oder wie auch immer.

Christian Lindner: Wir haben noch nicht unser Bürgergeld umgesetzt, aber wir haben an wesentlichen Stellen gemeinsam mit der Union Stellschrauben jetzt benannt, an denen wir drehen wollen, um das gerade beschriebene Ziel zu erreichen. Und ich bin sicher, dass wir in der Periode hier ganz wesentliche Fortschritte erzielen können. Und wir müssen es auch, weil wir mehr Menschen haben, die diesen Umstieg für sich persönlich wollen. Und deren Leistungsorientierung sollten wir belohnen. Deren Arbeit muss sich lohnen. Und es darf keinen Sozialstaat geben, der aufstiegsbereiten Menschen Knüppel zwischen die Beine wirft.

Deutschlandradio Kultur: Nun hat Ihnen diese Woche das Bundesverfassungsgericht angekündigt, es wird gerne die Hartz-IV-Berechnungsgrundsätze, also für die Sozialhilfe, überprüfen und Ihnen Maßstäbe irgendwann mal an die Hand geben. Das könnte ja teuer werden. Müssten Sie sich nicht da ein ganz neues System, nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene überlegen?

Christian Lindner: Das wird sich dann zeigen. Ich kann jetzt dem Karlsruher Urteil nicht vorweg greifen. Ein neues System brauchen wir an unterschiedlichen Stellen, weil auch dort das System komplex und kaum mehr steuerbar ist. Wir haben uns ja gemeinsam darauf verständigt, beispielsweise die Kosten der Wohnunterbringung stärker zu pauschalieren, dadurch vergleichbar und auch für den Staat planbar zu machen. In dieser Richtung, Pauschalierung statt Spitzabrechnung von Leistungen, müssen wir noch weitere Schritte gehen - wäre unser Wunsch.

Deutschlandradio Kultur: Sie haben gerade das Verfassungsrecht erwähnt. Also, die schöne Idee, die künftigen Kosten für die Sozialsysteme in einen Fond, einen Schattenhaushalt auszulagern, ist Ihnen gerade verfassungsrechtlich um die Ohren geflogen.

Christian Lindner: Ich darf aber sagen, das war noch nicht Gesetz. Das heißt, das ist nicht in Karlsruhe vorgelegt worden und ist von dort dann verworfen worden.

Deutschlandradio Kultur: Nein, aber es ist erstaunlich, dass es mehrere Tage lang in der Öffentlichkeit diskutiert wurde, um dann zu merken, dass es mit dem Verfassungsrecht nicht zusammenpasst.

Christian Lindner: Ja, es ist ein Vorschlag, der ist geprüft worden. Und das Prüfergebnis war negativ und es wird nicht gemacht. Also, wenn man in der Politik noch nicht mal mehr prüfen darf, wie man Ziele erreicht auf unterschiedlichen Wegen, dann haben wir in Deutschland ein Problem. Dann arbeiten wir nämlich mit zunehmenden Denkverboten.

Deutschlandradio Kultur: Von der SPD weiß man ja, dass sie gerne inhaltliche Diskussionen öffentlich führt. Von der CDU und der FDP war man es bisher in dieser Form nicht gewohnt, wie man auch sich ein bisschen wundern durfte, dass also Hermann-Otto Solms, Ihr Finanzexperte, ein paar Tage nach Beginn der Koalitionsverhandlung plötzlich feststellt, dass kein Geld mehr da ist. Ich meine, das kann ich in meiner Zeitung lesen. Da muss man kein Haushaltsexperte sein.

Christian Lindner: Ja, ich habe das Interview auch gelesen. Aber da Sie Journalist sind, können Sie ja zwischen seinem Wortlaut und dem, was die Redaktion an Bewertung daraus gemacht hat, unterscheiden. Der Wortlaut von Hermann-Otto Solms ist so, wie er das die letzten Jahre immer gesagt hat.

Deutschlandradio Kultur: Nein, worauf ich hinaus wollte…

Christian Lindner: Ausgangslage ist doch jedem klar.

Deutschlandradio Kultur: Worauf ich hinaus wollte, war eigentlich: Die Koalitionsverhandlungen, so wie wir sie jetzt gesehen haben, waren die einfach nur ein Kommunikationsproblem? Oder waren dann doch die gemeinsamen Schnittmengen nicht so groß, wie man gehofft und gedacht hatte?

Christian Lindner: Wir kommen von einer ganz unterschiedlichen Ausgangslage. Die Union hat vier Jahre Große Koalition hinter sich. Und offensichtlich hat sie viele Ideen der Sozialdemokraten adoptiert und verteidigt die jetzt, mit zum Teil dem Messer zwischen den Zähnen.

Und wir kommen aus der Opposition, haben hier eine konzeptionelle Politik formuliert für Deutschland, wie wir glauben, wie man aus einem Guss soziale Marktwirtschaft erneuern kann, wo wir auch bestimmte Defizite in Deutschland aufarbeiten müssen, auch Defizite, die die Große Koalition vergrößert hat. Und da kommen zwei zusammen.

Deutschlandradio Kultur: Ja, aber trotzdem. Sie gehen mir etwas zu leicht darüber hinweg. War das nicht schlichtweg peinlich, dass die FDP sich auf überhaupt diese Diskussion über Schattenhaushalt und Nebenhaushalt, den sie ja ursprünglich mal bekämpft hat, diesen Begriff und auch diese Art der Systematik, eingelassen hat. Sie sind doch in die Falle hineingelaufen, zwar Reformen zu wollen, aber dass man Ihnen vorher gesagt hat doch, das ist schlecht finanzierbar - und dann hinterher die große Entdeckung, es geht wirklich nicht und nun müssen wir nur noch unser Gesicht wahren. Das hätte man doch früher alles bedenken und auch anders machen können.

Christian Lindner: Solche Verhandlungen haben immer eine eigene Dynamik. Und ich empfehle, das auch im Zusammenhang zu sehen und die Geschichte von Anfang an zu erzählen. Viele der Vorschläge, die wir auch gemacht haben zur Gegenfinanzierung bestimmter Maßnahmen, auch im Steuerrecht, sind ja von der Union von vornherein ausgeschlossen worden. Bestimmte Ausnahmetatbestände im Steuerrecht standen nicht zur Disposition. Da gab's dann einen Zuruf aus München, wahlweise aus Düsseldorf von Herrn Rüttgers auch, bestimmte Dinge wollen wir nicht anfassen. Das hat also schon mal Spielräume mit begrenzt.
Und wenn zwei Partner zusammenkommen, haben beide No-Goes, haben beide Positionen, die Handlungsspielräume beschränken. Das ist zunächst einmal das eine.

Es ist ja nicht so, dass wir jetzt auf der Einnahme-, wie auch auf der Ausgabeseite freie Hand hätten als FDP. Die Union hat das nicht, aber wir eben auch nicht. Es sind zwei Partner, die sich mit unterschiedlichen Programmen begegnen und dann auf eine gemeinsame Linie verstehen müssen. So.

Und das Zweite ist: Jeder wusste, wir haben eine ganz schwierige konjunkturelle Lage, die sich auch in den öffentlichen Haushalten zeigt, auch in den Haushalten der Sozialversicherungen. Und aus der Lage müssen wir jetzt raus. Wir kommen nicht raus, indem wir die Belastungen erhöhen, wie das passieren würde, wenn man die Defizite jetzt auf die Zahler von Sozialversicherungsbeiträgen umlegen würde.

Das würde gerade die Bezieher von kleinen Einkommen treffen, weil für die die Sozialabgaben ja wesentlich sind bei ihrer Belastung. So. Wie können wir das also jetzt leisten? Faktor Arbeit nicht teurer machen, keine zusätzliche Belastung, um wirtschaftliche Dynamik zu erzeugen, die dann am Ende des Tages mit allem zeitlichen Verzug auch die Einnahmesituation der öffentlichen Kassen verbessert. Und da muss nach Wegen gesucht werden.

Ein Weg, der diskutiert worden ist, war der, ein so genanntes Sondervermögen zu bilden, in das die zukünftigen Überschüsse der Sozialversicherungen dann allerdings auch verbindlich zurückgeführt werden müssten, um die jetzt krisenbedingt aufgenommenen Verbindlichkeiten auch zu tilgen.

Das wäre also ein Kreislauf gewesen, der gerade der politischen Einflussnahme entzogen worden wäre, weil es nicht über den allgemeinen Staatshaushalt abgewickelt worden wäre, sondern zielgerichtet auf einen Zweck, nämlich Stabilisierung der Sozialversicherungsbeiträge in der 17. Wahlperiode, mit einer Entnahme jetzt, Beginn der Krise, aber auch mit einer verbindlichen Rückführung, wenn die Krise sich entspannt und wir wieder eine finanziell etwas weniger angespannte Situation vorfinden.

Deutschlandradio Kultur: Sie sind 30 Jahre alt, wir haben das schon erwähnt. Sie wechseln von der Landes- in die Bundespolitik. Sie sind jetzt Bundestagsabgeordneter geworden.

Christian Lindner: Ja.

Deutschlandradio Kultur: Sie sind ja schon im Bundesvorstand. Was ist denn das Themengebiet, das Sie sich für Berlin ausgesucht haben?

Christian Lindner: Das kann ich selbst noch nicht sagen. Unsere Fraktion sortiert sich ja noch. Und wie dann die Teamaufstellung in der Bundestagsfraktion ist, das kann heute noch niemand sagen. Ich habe Interessensgebiete im Bereich Wirtschaftspolitik. Bildungspolitik hab ich hier im Landtag gemacht. Das interessiert mich. Wo ich mich aber dann einfügen kann in die Mannschaftsaufstellung, das ist jetzt noch unklar.

Deutschlandradio Kultur: Sie haben eben vom Wähler gesprochen, dass der eigentlich in Ihrem Wahlkreis zumindest die Koalitionsverhandlungen gut mitgeht. Ist das nicht die Gefahr der FDP, dass - wenn Sie nicht bringen, was Sie versprochen haben, wie Steuerreform - die Wähler wieder abspringen? Oder glauben Sie, dass Wähler bewusst sich liberal entscheiden, so wie eine Lebensentscheidung? Da kommt es gar nicht auf das Ergebnis der Koalition an, als vielmehr auf die Zielrichtung des eigenen Lebens.

Christian Lindner: Es ist doch bei jedem anders und bei jeder Wahl anders. Es gibt Wähler, die aus weltanschaulichen Gründen zum Beispiel die FDP wählen, weil sie überzeugt davon sind, dass das Prinzip Freiheit in der Wirtschaft, aber eben auch in der Gesellschaft notwendig ist. Es gibt andere, die punktuell, weil ihnen die Nase eines Politikers gefällt, eine Partei wählen und dritte, die ein ganz konkretes Anliegen haben oder vielleicht auch aus einer taktischen Motivation eine Partei, nicht mal nur die FDP, wählen. Da gibt’s ganz unterschiedliche.
Nach meiner Wahrnehmung hat die FDP in den vergangenen Jahren sehr viele Überzeugungswähler gewonnen, die auch aus einer inneren Einstellung heraus für die Liberalen votieren. Aber auch die wollen, können, dürfen, werden wir nicht enttäuschen.

Wir wollen ja liefern. Wir wollen zeigen, dass mit unseren Ideen auch praktische Politik gemacht werden kann und dass sich das zum Wohle aller auswirkt. Dafür gibt’s Belege. Ich sage noch mal, dass wir hier in Nordrhein-Westfalen seit 2005 regieren zum Vorteil aller. Peer Steinbrück, der ehemalige Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, der abgewählte Ministerpräsident und Bundesfinanzminister, hat selbst in seiner süffisanten Rede vor dem SPD-Parteivorstand gesagt, dass offensichtlich Schwarz-Gelb kein Schreckgespenst für viele Menschen ist, so wie die SPD das in ihren Kampagnen dargestellt hat, sondern dass die Menschen in der Lebenswirklichkeit feststellen, Mensch, uns geht’s gut, wenn Konservative und Liberale Politik gestalten.

Deutschlandradio Kultur: Einmal kurz ein Ausblick in die Zukunft: Wenn's blöd läuft für die CDU und die FDP, dann schaffen es SPD, Grüne und Linkspartei in der kommenden Legislaturperiode so zu mobilisieren, dass Ihr hauchdünner 48-Prozent-Vorsprung gegenüber dem linken Lager in vier Jahren weg ist. Was machen Sie dann?

Christian Lindner: Ich glaube nicht daran. Ich schaue hier nach Nordrhein-Westfalen. Da hat man genau dieselbe Diskussion geführt, jetzt über vier Jahre schon, jetzt bald gelingt es Rot, Blutrot, Grün eine eigene Mehrheit zu organisieren. Nichts davon ist passiert. Denn gegen Schwarz-Gelb in Nordrhein-Westfalen wird nicht mobilisiert, weil es keine Anpackpunkte gibt. Die haben gar kein Thema, wo sie skandalisieren könnten, über Sozialabbau klagen könnten. Sondern wir machen einfach eine gute Politik, die hier auf eine breite Zustimmung stößt. Wir können sie erklären und sie wird auch täglich erfahren in ihren positiven Wirkungen. Dasselbe stelle ich mir für Berlin vor.

Ganz im Gegenteil ist meine Erwartung, dass wir durch die Politik der neuen Koalition in Berlin unsere Mehrheit 2013 eher vergrößern können. Wird Sie möglicherweise überraschen, aber die nordrhein-westfälischen Erfahrungen lassen das aus meiner Sicht für mindestens erreichbar erscheinen. Sozialdemokraten orientieren sich nach links. Sie stellen zwar in den Wahlanalysen fest, sie verlieren Wähler an CDU und FDP, weniger an die Linkspartei, aber sie orientieren sich trotzdem programmatisch vom Zentrum des Parteiensystems weg nach links. Da wird also der Raum für eine Politik der Mitte, des Zentrums größer für Schwarz-Gelb.

Deutschlandradio Kultur: Herr Lindner, wir danken für das Gespräch.

Christian Lindner: Ich danke Ihnen.