Eine neue Walser-Debatte?

Rezensiert von Wolfgang Schneider · 12.09.2005
Schon wieder eine Walser-Debatte? Schon wieder Antisemitismus-Vorwürfe? Jetzt hat der Lüneburger Kulturwissenschaftler Matthias N. Lorenz eine Dissertation vorgelegt, die, was bisher eher feuilletonistisch abgehandelt wurde, mit wissenschaftlicher Systematik und Gründlichkeit ins Auge fasst: "Auschwitz drängt uns auf einen Fleck - Judendarstellung und Auschwitzdiskurs bei Martin Walser".
Zunächst sind die Qualitäten des Buches festzustellen: Lorenz ist ein sehr guter Kenner von Walsers Gesamtwerk und der Forschung darüber; vor drei Jahren hat er eine umfangreiche Forschungsbibliographie verfasst. Das Buch ist also kein polemischer Schnellschuss. Walser-Themen und -Motive wie Auschwitz, Nation und jüdische Figurendarstellung werden so übergreifend wie nie zuvor abgehandelt. Gewiss ein verengter Blickwinkel auf das Werk, aber einer, der nach all den Debatten sehr berechtigt ist.

Anfangs versichert Lorenz, es gehe ihm nicht darum, Walser zu demontieren. Im Verlauf der Untersuchung häufen sich aber doch die abwertenden und stark moralisierenden Kommentare: von "skandalöser Figurencharakteristik", "antisemitischen Entgleisungen" und "Schamlosigkeit" ist dann zum Beispiel die Rede. Die Studie kommt zum Ergebnis, dass Walsers Romane und seine publizistischen Äußerungen fragwürdige antisemitische Komponenten aufweisen, und das eben nicht erst seit dem Skandalroman "Tod eines Kritikers". Kaum erstaunlich, dass angesehene Kritiker bereits heftig auf dieses Buch reagiert haben – nicht gerade üblich bei Dissertationen.

Ohne Zweifel trotzt Walser gegenüber der offiziellen Gedenkkultur. Deutlich sein Unwillen, nur weil man in eine bestimmte Zeit hineingeboren wurde, prinzipiell auf der Seiten der Schuldigen und gefälligst Schuldbewussten zu stehen. Hinzu kommen seine Lust am Tabubruch und das Bedürfnis des Schriftstellers, gegen die Zwänge von Sprachregelungen, und die Macht der politischen Korrektheit aufzubegehren.

Die Berechnungen, die Lorenz in Sachen Täter-Opfer-Relation und "Schuldumkehr" anstellt, sind aufschlussreich, im Ergebnis aber oft beliebig. Ein Beispiel: Im Roman "Die Verteidigung der Kindheit" schreibt Walser über die Schrecken der Bombardierung von Dresden – hier liegt der Verdacht einer Opfer-Täter-Umwertung nahe. Nun zeigt sich: Walser arbeitet auch jüdische Leidensgeschichten in das Buch ein. Aber besteht nicht gerade darin eine fatale Gleichsetzung von Dresden und Auschwitz? Irgendeine Schlussfolgerung lässt sich also immer finden, um Walser schlecht aussehen zu lassen.

Walser schreibt Bewusstseinsromane, er ist berichtet aus den verschwiegenen Zonen angeschlagener, verletzter, gedemütigter Seelen. Naturgemäß werden aus dieser Position heraus leicht Ressentiments entwickelt. Die Monologe der Hauptfiguren (seien sie auch durch die dritte Person distanziert) geraten zu fortgesetzten Selbstverteidigungsübungen. Wer sich permanent selbst behaupten muss, hat wenig Sinn und Kraft für die Leiden anderer – er neigt zur Abwehr.

Eine Psychologie der Selbstverteidigung und Selbstrechtfertigung bestimmt also Walsers Romane. Sie kann oft einsichtsvoll und amüsant sein. Übertragen auf die Frage der deutschen Identität, häufen sich jedoch die Klagen über die Walser-Methode. Das deutsche "Wir" als Walser-Held, der gegen offizielle Sprachregelungen wettert, sich prinzipiell missverstanden und ohnmächtig fühlt und bei Leiden und Opfern vor allem an die eigenen Wunden denkt – lieber nicht. Da Martin Walser stets aus der Perspektive eines Opferbewusstseins schreibt (er definierte sein Schreiben wiederholt als Reaktion auf Verletzungen), musste es fast zwangsläufig zur Opferkonkurrenz kommen: einer wie auch immer subtilen Demontage des jüdischen Opferstatus als unanfechtbar-einzigartig.

Nur wer in die Schule des Verdachts geht, wird dergleichen schon als Antisemitismus bezeichnen. Zustimmen muss man Lorenz jedoch in seiner Beurteilung des Romans "Tod eines Kritikers". Philologische Verweise auf Erzählperspektive, Mutmaßungsprosa und die diversen Komponenten der Ehrl-König-Figur, wie sie Walsers Verteidiger anführen, können hier nicht überzeugen. Bei allen "Mehrdeutigkeiten" ist eindeutig Marcel Reich-Ranicki gemeint, und Walser scheut in diesem schlecht geschriebenen, von Kränkung und Hass diktiertem Buch tatsächlich nicht vor der "geschmacklosen" Applikation antisemitischer Klischees zurück.

Warum aber dann die völlig entgegen gesetzten Wertungen, die von kompetenten Beurteilern in der Frage, ob der Roman ein antisemitisches Buch sei, abgegeben wurden? Es hat offenbar damit zu tun, dass die Definition von literarischem Antisemitismus unscharf bleibt. In den letzten Jahren sind zwar wiederholt Merkmalslisten erstellt worden, anhand derer man eine Figurendarstellung schematisch überprüfen kann, aber diese Listen sind unbefriedigend, weil sie das Problem der Negativdarstellung nicht in den Griff bekommen (was auch Lorenz in seinem methodischen Teil zugesteht). Sind Juden prinzipiell etwa nur wohlwollend und positiv darzustellen? Das wäre ein fragwürdiger literarischer Philosemitismus. Sind Stereotypen und Klischees über Slawen und Russen erlaubt (man denke etwa an Clawdia Chauchat und den "schlechten Russentisch" in Thomas Manns viel gepriesenem "Zauberberg"), solche über Juden aber prinzipiell nicht?

Geradezu kurios mutet jedenfalls der Stereotypen-Katalog von Heidy M. Müller an, den Lorenz in seinem Buch vorstellt: Im Falle jüdischer Figuren, heißt es da unter anderem, sei unbedingt abzuraten von Gattungen wie dem Kriminalroman oder der Parodie, mit denen bipolare Bewertungsschemata oder der Zwang zur Erfindung negativer Figuren verbunden seien.

Und was ist vom Phänomen eines literarischen Antisemitismus ohne Juden zu halten? Die Figur des Maklers Kaltammer in Walsers Roman "Das Schwanenhaus" erscheint laut Lorenz als Syndrom von Stereotypen: Kaltammer ist mächtig, intrigant, sexuell anormal, alterslos wie der "ewige Jude", heimatfremd, kosmopolisch, schmarotzerhaft, geldgierig, geizig. Nur: Kaltammer wird an keiner Stelle als Jude benannt. Fehlanzeige also? Oder ist nun zusätzlich von einer besonderen Perfidie Walsers auszugehen, der aus Tarnungsgründen die Sache nicht einmal beim Namen nennt? Ist der Befund ‚Antisemitismus ohne Jude’ subtile Philologie? Oder eher ein Beispiel für ein paranoides Deutungssystem, das sich fortlaufend selbst bestätigt, indem es, wo nur angewendet, gleich auch zu "Ergebnissen" führt?

Auch die Fachleute für antisemitische Stereotypen und falsches Sprechen über Juden sollten konzedieren, dass das deutsch-jüdische Verhältnis ein heikles Feld ist, auf dem man sich derzeit literarisch kaum bewegen kann, ohne ungeschickt auszusehen.


Matthias N. Lorenz: Auschwitz drängt uns auf einen Fleck. Judendarstellung und Auschwitzdiskurs bei Martin Walser.
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