Eine neue Kultur des Alters

Rezensiert von Richard Schroetter · 21.06.2006
Nach Berechnungen der UNO wird sich die Zahl der Menschen, die über 60 Jahre alt sind, bis zum Jahr 2050 auf zwei Milliarden verdreifachen. Angesichts dieser Entwicklung muss sich die Rolle der Senioren in der Gesellschaft ändern. Helmut Bachmaier und René Künzli plädieren daher in ihrem Buch "Am Anfang steht das Alter" für eine neue Alterskultur, die den Menschen eine lebenslange Teilnahme am gesellschaftlichen Leben erlaubt.
Die massiven Veränderungen in der Altersverteilung der Gesellschaft werden langfristig, so sagen Helmut Bachmaier und René Künzli voraus, auf Wirtschaft und Wirtschaftspolitik enorme Auswirkungen haben.

Umdenken - wir wissen es ja längst - ist gefordert. Bachmaier und Künzli haben, schon bevor Frank Schirrmacher den Methusalem-Komplex entdeckte, auf diese Problematik aufmerksam gemacht. Der Konstanzer Literaturprofessor und der Schweizer Geschäftsmann sind die Motoren einer Stiftung, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die Senioren und Alterspolitik zu verbessern. Diese Stiftung wiederum ist der think tank gewissermaßen der Tertianum-Gruppe, eines Schweizer Unternehmens, das seit cirka 20 Jahren (jetzt auch Deutschland) exklusive Seniorenwohnheime in der Luxuskategorie betreibt, "Residenzen" mit individueller Betreuung.

Das Alter wird gewöhnlich als Defizitmodell dargestellt, als körperlicher Verfall und schleichender Verlust an Funktionen. Simone de Beauvoir hat in ihrer berühmten Studie "Das Alter" besonders die negativen Aspekte hervorgehoben. Doch fortschrittlichere Theoretiker sind damit nicht einverstanden. Es finde da ein Disput, so die Autoren
"… zwischen der 'Disengagement-' und der 'Aktivitäts-Theorie' statt. Erstere ... hält den allmählichen Rückzug aus dem Leben (Arbeit, Verein, Sexualität etc.), letztere ... die möglichst lange Teilnahme für natürlich und erstrebenswert."

Bachmaier und Künzli vertreten dabei eindeutig die Aktivitäts-Theorie, die ein verlängertes Lernen und Weiterbilden anstrebt. Sie berufen sich unter anderen auf die renommierte Altersforscherin und Psychologin Ursula Lehr, einer Verfechterin "der List der Vernunft", die das geschickte Ausschöpfen aller Möglichkeiten des Lebens bis zur allerletzten Sekunde propagiert. Demnach werde das ältere Defizitmodell …

"'vom neueren Kompetenzmodell des Alterns abgelöst. Altern in dem positiven Sinne des Reifens' ist eine 'Kunst […], die gegebene Situation mit ihren Grenzen und Möglichkeiten auszukosten'."

Altersprobleme, betonen Bachmaier und Künzli, seien nicht primär, wie immer wieder behauptet wird, durch das kalendarische Alter verursacht, sondern vorwiegend sozial und gesellschaftlich bedingt.

"Es ist einer der Grundirrtümer in der Einstellung gegenüber älteren Menschen, dass man die Lebensjahre als etwas Schicksalhaftes ansieht, die zwangsläufig in ein unkorrigierbares Problem einmünden. Vieles an den Altersproblemen ist keine Schicksalsfügung durch den Zeitverlauf oder durch den Lebensprozess, sondern wird hervorgerufen durch soziale Strukturen und gesellschaftliche Wertungen."

Die Autoren glauben, dass "Altersresignation, Passivität und Erstarrung" sich durch Einstellungsänderung, durch neue Motivation und Kompetenzen verändern lassen. In ihrer Skizze einer Altersethik heißt es:

"Der Leitgedanke der Neuen Alterskultur ist der Vorrang der Bildung für Menschen im dritten Lebensjahrzehnt."

"Bildung und Handeln statt Betreuung" lautet die zentrale Maxime. Es gibt Rechte, aber auch Pflichten: Hierzu gehören

"1. Pflicht zu lebenslangem Lernen.
2. Pflicht zur Eigenverantwortung.
3. Pflicht für die Allgemeinheit tätig zu werden.
4. Pflicht zur Gesunderhaltung.
5. Pflicht zur Sinngebung des Lebens"

Nun ist nicht jeder von der Natur so großzügig beschenkt wie etwa ein Johann Wolfgang von Goethe, der bis ins hohe Alter bei Kräften war und sich sinngebend für die Allgemeinheit einsetzte. Und es fragt sich, ob nicht so viele Pflichten eine subtile Art der Freiheitsberaubung darstellen.
Aber völlig Recht haben die Autoren, wo sie für eine neue Alterskultur, eine "Neue Alterspolitik" plädieren.

"Alterspolitik muss die Vorreiterrolle in der Sozialpolitik übernehmen. Alterspolitik soll als Avantgarde der Sozialpolitik Orientierung geben.
Alterspolitik muss neue Vorhaben der Prävention, der Entwicklung neuer Dienstleistungen sowie neuer Lebens- und Wohnformen für ältere Menschen fördern. Dazu gehören auch Modellversuche. Gegenwärtig wird in Innovationen im Alterssektor zu wenig investiert."

Das Buch von Bachmaier und Künzli ist kein durchgängiger Text, sondern eine Sammlung verschiedener Arbeiten, die von der historischen Darstellung bis zum Thesenpapier reichen. Es wird das heikle Thema der Sterbehilfe angesprochen, es wird über Zeitmangement und eine generationenübergreifende Kollaboration diskutiert. Darüber hinaus findet der Leser den Umriss einer allgemeinen Altersethik, die den Autoren besonders am Herzen liegt. Angesichts der rasant zunehmenden Alterspyramide eine äußerst wichtige Lektüre.