Eine Mädchenbande findet das Paradies

29.08.2008
Gemeinsam mit ihrer berühmten Mutter Bettina von Arnim hat die damals 17-jährige Tochter Gisela dieses Kunstmärchen ersonnen. Darin schickt die böse Stiefmutter Gritta ins Kloster, doch sie entflieht mit ihren Leidensgenossinnen und erlebt märchenhafte Abenteuer. Der Züricher Manesse Verlag hat den Klassiker über das Erwachsenwerden im 19. Jahrhundert wieder aufgelegt.
Die böse Stiefmutter schickt sie ins Kloster, doch Gritta entflieht von dort mit einer ganzen Mädchenbande und erlebt märchenhafte Abenteuer an fernen Gestaden. Mutter und Tochter von Arnim haben einen bezaubernden Roman über das Erwachsenwerden im 19. Jahrhundert geschrieben.

Bettina Brentano und Achim von Arnim heirateten 1811, sie hatten sieben Kinder, das jüngste war die Tochter Gisela, die 1827 geboren wurde, da war die Mutter Bettina bereits 42 Jahre alt. Der vorliegende "Märchenroman" von Mutter und Tochter über das "Leben der Hochgräfin von Rattenzuhausbeiuns" sollte 1845 erscheinen, das bezeugt das erst im 20. Jahrhundert gefundene Titelblatt. Nach allem, was man weiß, muss die seinerzeit etwa 17-jährige Gisela die Hauptautorin gewesen sein, die Mutter Bettina hat die Korrekturen vorgenommen.

"Ein Ding aus reinem Übermut", lautet der erste Satz von Rolf Vollmanns Nachwort, in dem er aber vor allem die weit verzweigten familiären Verhältnisse der Brentanos und Arnims und ihre Beziehungen zu den geistigen Größen der Zeit aufdröselt. Tatsächlich war Gisela, die Wilhelm Grimms Sohn Herman heiratete, "bei den Zeitgenossen bekannt durch genialischen Übermut und Extravaganz", wie ein Literaturlexikon schreibt. Das schlägt sich in diesem Kunstmärchen nieder.

Das Geschlecht der Rattenzuhausbeiuns besteht nur noch aus dem alten Hochgrafen, der an einer skurrilen "Rettungsmaschine" bastelt, und seiner Tochter Gritta. Eine plötzlich auftauchende junge Gräfin, kaum älter als Gritta, verdreht dem Hochgrafen den Kopf, wird Grittas Stiefmutter und schickt diese ins Kloster, einen strengen, lebensfeindlichen Ort, natürlich. "Hier müssen wir fort", sagt Gritta und flieht mit den übrigen "Nönnchen", eine richtiggehende Mädchenbande ist das. Sie erleben märchenhafte Abenteuer, landen auf der Insel der Schatten, lassen sich von Schmetterlingsmenschen erzählen und erreichen schließlich das Paradies Sumbona, wo Gritta den Prinzen heiratet und zum "Muster aller Königinnen" wird.

Während das (weibliche) Recht aufs eigene Leben in Bettina von Arnims Werk nur eine untergeordnete Rolle spielt, wird es in Giselas Märchen zum Thema. Gritta und ihre Freundinnen werden mündig, ohne zu missraten (was für Frauen des 19. Jahrhunderts nicht selbstverständlich war). Selbst die böse Stiefmutter nimmt sich im Grunde ähnliche Sachen heraus wie Gritta: sie ist ein junges Fräulein, das gegen die Obrigkeit opponiert, sie ist eine "wilde Gräfin", die "herein will" (nämlich ins Schloss der Rattenzuhausbeiuns), so wie Gritta "hinaus" will (aus dem strengen Kloster).

Ein jugendlicher Protestroman ist das (à la Pippi Langstrumpf, wie der Verlag nicht zu unrecht nahelegt, und "Wilde Hühner"), aber auch ein bezauberndes Buch, amüsant, phantastisch, unbekümmert, ironisch auch – so ironisch, dass die Erzählerin am Schluss dazu auffordert, sich das Paradies Sumbona selbst einmal anzuschauen, falls "Gott-Vater es nicht wieder an den Himmel geklebt hat".

Rezensiert von Peter Urban-Halle

Bettina und Gisela von Arnim: Das Leben der Hochgräfin Gritta von Rattenzuhausbeiuns
Märchenroman. Nachwort von Rolf Vollmann
Manesse Verlag, Zürich
303 S., 17,90 Euro.