Karl Heinz Bohrer: "Mit Dolchen sprechen"

Eine Literaturgeschichte des Hasses

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Cover von Karl Heinz Bohrer: "Mit Dolchen sprechen"
Der Hass-Analytiker Karl Heinz Bohrer wandelt in den zwölf Kapiteln seiner Studie sehr oft auf den "Straßen der Ausschweifung". © Suhrkamp
Von Michael Braun · 04.10.2019
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Mit Leidenschaft begehrt der Literaturwissenschaftler Karl Heinz Bohrer seit Jahrzehnten gegen moralistische Gesinnungsästhetik auf. Sein neues Buch "Mit Dolchen sprechen" ist ein Plädoyer für den Hass, jedenfalls in der Poesie: von Homer bis Houellebecq.
Das jüngste Projekt Karl Heinz Bohrers, eine moderne Literaturgeschichte des Hasses, geht auf eine bereits 1978 formulierte Ankündigung zurück. Um den "Kulturgehorsamen" ihre "laue Suppe" zu versalzen, so sagte Bohrer damals in seiner Dankrede zum Johann-Heinrich-Merck-Preis, gelte es, den Hass als ein Mittel "häretischer Vorstellungskraft" zu rehabilitieren.
Als Motto seiner Rede wählte er einige Zeilen des englischen Dichters William Blake, die nun auch sein aktuelles Buch "Mit Dolchen sprechen" eröffnen: "Die Tiger des Zornes sind weiser als die Rosse der Belehrung… Die Straße der Ausschweifung führt zum Palast der Weisheit." Blakes Zeilen, formuliert Ende des 18. Jahrhunderts, entziffert Bohrer als Plädoyer für eine aggressiv-aufständische Literatur, die den Hass als ein Mittel intensiver Poesie einsetzt.

Entsetzliche Szenen von Torturen aller Art

Und tatsächlich wandert der Hass-Analytiker in den zwölf Kapiteln seiner Studie sehr oft auf den "Straßen der Ausschweifung". Denn die Artikulationsformen des Hasses, die er in einigen zentralen Werken der Weltliteratur vorfindet, münden oft in Darstellungen entsetzlicher Szenen von Massakern, Folterungen und sadistisch zugefügten Torturen aller Art. Von Homers "Ilias" über die Dramen Christopher Marlowes und William Shakespeares, die grausamen Helden Kleists und die Totentänze August Strindbergs führt sein Weg ins 20. Jahrhundert, zu den radikalsten Protagonisten des literarischen Hass-Diskurses: zu Louis-Ferdinand Céline, Rolf-Dieter Brinkmann, Rainald Goetz und Michel Houellebecq.
Als einzige weibliche Repräsentantin der literarischen Imagination des Hasses firmiert Elfriede Jelinek, der Bohrer allerdings nur wenige Seiten widmet. Ein wichtiges Motiv Bohrers ist sicherlich der Versuch, mit intellektueller Konterbande in die erhitzte Debatte über die Konjunktur des politischen Hasses im allerorten hochkochenden Nationalismus und Rassismus einzugreifen. Der Hass als "weltanschauliches Gebräu" bleibt für den Ästhetiker des Bösen dabei allerdings außen vor, ihn interessiert nur die "poetologische Signifikanz" des Hasses in der Weltliteratur.

Hass als Treibstoff poetischer Imagination

Die Begriffe, die Bohrer für seine Kategorisierungen des Hasses verwendet, sind nicht immer trennscharf: Die "Hass-Rede" und den "Hass-Affekt" grenzt er zwar vom "Hass-Effekt" als einem Ergebnis des literarischen Stils ab, aber in seiner Darstellung verschwimmen oft diese Grenzen.
Den Hass zum Treibstoff poetischer Imagination zu adeln, ist letztlich ein Vorhaben von begrenztem Erkenntniswert. Zwar vermag Bohrer mit seinem immensen Kenntnisreichtum immer wieder Szenen des Grauens und des Bösen als die Grundfigur einer negativen Ästhetik freizulegen. Für die Gegenwartsliteratur bleibt etwa Rainald Goetz' große Hass-Rede "Subito" von 1983 bis heute ein Bezugspunkt der literarischen Debatte. "Es bleibt nichts", so Goetz damals, "nur Haß, maßloser Haß, Haß auf das Leben, Haß auf alles, Haß auf Leben und Tod".
Am Ende verweilt Bohrer lange bei Michel Houellebecq und dessen Fantasieketten obszöner und pornografischer Szenen. Literarischer König des Hasses bleibt für ihn aber Shakespeares Hamlet und seine "wie mit Dolchen bewaffnete Sprache". Die Zweifel, ob sich eine Ästhetik auf eine intensive Emotion begründen lässt, vermag Karl Heinz Bohrer allerdings nicht auszuräumen.

Karl Heinz Bohrer: "Mit Dolchen sprechen. Der literarische Hass-Effekt"
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019
494 Seiten, 28 Euro

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