Eine Liebesklage

Von Maike Albath · 14.07.2005
Der schmale Band "Fast ganz die Deine" ist die Klage einer Verlassenen. Im Jahr 1930 schrieb die an Tuberkulose erkrankte Marcelle Sauvageots in Tagebuchnotizen und Briefen den Abschied von ihrem Geliebten nieder. Der Text, der in die Hände eines berühmten Kritikers fiel, machte sie posthum berühmt.
Marcelle Sauvageots schmaler Band "Fast ganze die Deine" ist eine Liebesklage, die Klage einer Verlassenen. Ohne eine Spur von Sentimentalität analysiert die Verfasserin in tagebuchartigen Sequenzen und Briefen ihren Schmerz, lässt die Stationen der Beziehung Revue passieren, reflektiert über den wechselhaften Charakter komplexer Gefühle und betreibt strenge Selbsterforschung. Die schwierigen Seiten der eigenen Person gelangen ebenso zur Darstellung wie die Eigenarten ihres abtrünnigen Freundes. Es handelt sich um ein autobiographisches Zeugnis, das einen Zeitraum von sechs Wochen umfasst: den Auftakt bildet eine Notiz, die mit dem Datum 7. November 1930 gekennzeichnet ist, die letzte Eintragung wird Weihnachten 1930 vorgenommen.

Marcelle Sauvageot, geboren 1900 in Charleville und Lehrerin von Beruf, leidet an der großen Epochenkrankheit Tuberkulose und reist von Paris nach Hauteville, um sich dort im Sanatorium einzuquartieren. Unterwegs zweifelt sie an ihrer Entscheidung, die Hauptstadt zu verlassen, und wendet sich in einem Brief an den fernen Geliebten. Immer wieder kommen ihr dessen Äußerungen in den Sinn, die sie wie kostbare Geldmünzen hin und her wendet und von allen Seiten betrachtet.

Die junge Frau fürchtet sich vor der Krankheit und schlägt dem Adressaten einen Handel vor: falls er sie weiterhin liebe, würde sie wieder gesund. Kaum ist sie in Hauteville eingetroffen, überfällt sie eine "kalte, gewisse Wahrheit": die Liebe ist vorbei. Einige Tage später erhält die Kranke einen Brief, der ihre Ahnung bestätigt. Der Mann, mit dem sie seit einigen Jahren verbunden ist, wird eine andere Frau heiraten.

In einem Teil der Aufzeichnungen wendet sie sich direkt an den Freund, den sie abwechselnd mit Du und Sie anspricht, je nach Stimmung, andere Notizen haben eher den Charakter eines Selbstgesprächs. Die Idealisierung des Abwesenden ist längst zerbrochen: "Deine Schwächen gehören mir. Ich habe Dich unermüdlich beobachtet und sie nach und nach entdeckt. Ich leide darunter, daß Du sie hast, aber ich würde nicht wollen, daß Du Dich änderst". Zitate aus seinen Briefen skandieren die Überlegungen. Die Entscheidung, sich anderweitig zu verheiraten, schiebt sie auf seine Konventionalität, seine Begründung, er dürfe die andere Frau nicht enttäuschen, hält sie für fadenscheinig.

In jeder Zeile ist ihre Trauer um das verlorene Glück spürbar, gleichzeitig – und das ist das Beeindruckende – führt die Kränkung nicht zu einer Selbstverdammung oder Selbstzerstörung, im Gegenteil. Größe, Stolz und Würde sprechen aus ihren Sätzen. Bemerkungen über den Alltag im Sanatorium und ihre Krankheit fließen in das Zeugnis mit ein, aber Selbstmitleid oder genussvoller Masochismus sind ihr fremd – die Lungentuberkulose ist ganz einfach eine Herausforderung, die das Schicksal an sie stellt. Das schamvolle Angebot des Geliebten, weiterhin ihr Freund zu bleiben, weist die Autorin zurück, und als Weihnachten ein Brief von ihm eintrifft, wirft sie ihn ungeöffnet in den Papierkorb und geht auf den Festball des Sanatoriums. "Fast ganz die Deine" ist auch die Geschichte einer Befreiung.

Aber woher rührt die Schönheit dieses Prosastückes, das zu Lebzeiten der Verfasserin nur in einem Privatdruck mit einer Auflage von 160 Stück im Freundeskreis kursierte und erst nach ihrem frühen Tod 1934 auf Betreiben des Kritikers Charles Du Bos als Buch erschien? Marcelle Sauvageot variiert einen traditionsreichen Topos, und aus dem Gegensatz zwischen der Stärke ihrer enttäuschten Leidenschaft und der Ruhe ihres Tons entsteht eine große Intensität. Das Gefühl für die eigene Endlichkeit grundiert ihre Aufzeichnungen. Fast ganz die Deine steht in der Tradition der Bekenntnisliteratur. Die Briefe an den Geliebten wurden nie abgeschickt, und seine Identität ist bis heute ungeklärt. Ob er die Aufzeichnungen nach der Veröffentlichung je gelesen hat, bleibt ein Geheimnis.

Marcelle Sauvageot, Fast ganz die Deine. Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer. Verlag Nagel und Kimche, München - Wien 2005. 109 Seiten, 12, 90 Euro