Eine leichthändig hingetupfte Sommergeschichte

27.12.2011
Der Mann hat keinen Namen. Die Frau, die ihn kennenlernen möchte, nennt ihn nur "das Exemplar". Das Debüt von Annette Kolb, einer der bekanntesten Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts, ist nun wieder auf dem Markt. Eine Neuentdeckung, die sich lohnt.
Heute ist sie weitgehend vergessen, dabei zählte sie eine Weile zu den bekanntesten deutschsprachigen Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts. In einem Atemzug nannte man sie mit Thomas Mann oder Hermann Hesse. Nur ihr damals erfolgreichster Roman "Die Schaukel" (1934) ist heute noch greifbar. Ihr literarisches Debüt, das bei seinem Erscheinen von Rainer Maria Rilke enthusiastisch gefeiert wurde, war lange Zeit vergriffen und ist nun in einer bildschönen Neuausgabe wieder zugänglich.

Der Roman, eine leichthändig hingetupfte Sommergeschichte, handelt von einer ungewöhnlichen Heldin. Marieclée, irgendwo in ihren Zwanzigern, reist aus ihrem Heimatort München nach London. Sie ist dort mit einem Mann verabredet, den sie einst in Paris kennenlernte. Einen Namen hat dieser Mann nicht, sie nennt ihn nur "das Exemplar". Weil sie ihn am verabredeten Ort verpasst, hofft sie, ihm irgendwann bei Freunden zu begegnen. Von nun an wartet sie, und sie vertreibt sich die Zeit, indem sie ziellos durch London schlendert. Sie verkehrt in den unterschiedlichsten Kreisen, lässt sich durch Museen und immer wieder neue Stadtviertel treiben, wird von einem kultivierten, aber langweiligen Diplomaten regelmäßig zum Abendessen ausgeführt, sie unternimmt Landpartien. Wie ein Paradiesvogel wird sie in der Londoner High Society genauso herumgereicht wie auf noblen Landsitzen, wo man sie mit einer Mischung aus kaum verhohlenem Misstrauen und Bewunderung beäugt.

Marieclée ist eine ungebundene Frau, sie setzt sich über alle Konventionen hinweg. Bei aller Neugier auf irritierende Erfahrungen hält sie Abstand zu ihrer Umgebung, genauso wie zu sich selbst. Sie "stand sich nicht sehr nahe", und wenn sie "ins Gedränge mit sich kam", dann befreit sie sich, indem sie die Richtung des Denkens wechselt. Mit Geld kann sie nicht umgehen, umso besser aber mit Männern, von denen sie sich bedrängt fühlt. Weil sie keinem gehört, so glaubt sie, behält sie auf alle ein Recht.

Annette Kolb erfindet mit dieser Figur, die genau zu wissen scheint, was Glück und Erfüllung bedeuten, einen Typus, der bislang in der Literatur ohne Vorbild war. Unverkennbar aber ist deren Nähe zu den frechen Lebensentwürfen einer Lou Andreas-Salomé oder Franziska Reventlow. Dabei gelingt der Autorin, die selbst viele Reisen stets allein unternommen hat, unter anderem nach England, ein überaus heiterer Ton. Mit leichtem Spott grundiert, fängt sie die Atmosphäre in der englischen Hocharistokratie genauso treffsicher ein wie manche männliche Bemühungen um glanzvolles Auftreten. Ihr kühl klassifizierender Blick macht aber auch vor Frauen keineswegs Halt. Die Herzogin von R. etwa, die zur Tür hereinwehte, als käme sie von einem Ritt durch die Wüste, "es stand aber nur ihr Auto draußen auf dem Kies."

So liefert dieser Roman ein wunderbares Porträt der Zeit des Fin de siècle, ganz besonders aber das Porträt einer hinreißenden Heldin, die mit ihrem störrischen Eigensinn einer Neuentdeckung würdig ist.

Besprochen von Edelgard Abenstein

Annette Kolb: Das Exemplar
Edition Nautilus, Hamburg 2011
216 Seiten, 18,90 EUR