Eine Lange Nacht über Virginia Woolf

"Ich spieße die Zeit mit der Feder auf"

Von Astrid Nettling · 30.09.2017
Unbestritten zählt Virginia Woolf (1882 - 1941) zu den Großen der literarischen Moderne. Früh nimmt sie die Herausforderung an, mit ihrem Schreiben dem neuen Jahrhundert gerecht zu werden.
"Ich will alles Nutzlose, Abgestorbene, Überflüssige eliminieren: dem Augenblick ganz geben, was immer er enthält."
Von Kindheit an ist sie oft krank und übernervös. Seelische Krisen zwingen sie, als Schriftstellerin zu pausieren. Trotz all dieser Probleme hat sie ein beeindruckendes Oeuvre geschaffen. Neun Romane - darunter "Mrs. Dalloway", "Zum Leuchtturm", "Orlando", "Die Wellen", viele Essays, in denen sie sich mit literarischen Fragen beschäftigt, aber ebenso mit spitzer Feder in die männerdominierte Welt ihrer Zeit hineinsticht. Unzählige Briefe und Tagebücher kommen hinzu.
Brillant, witzig, boshaft, zugleich nachdenklich und freimütig gewährt Virginia Woolf so Einblicke in ihre ebenso fragile wie dem Leben zugewandte Persönlichkeit. Lange stemmt sie sich gegen die in ihr lauernden Abgründe. Zudem überschatten Krieg und Zerstörung die letzten Jahre ihres beschwerlichen Lebens: "Wenn der Krieg nicht wäre, dann würde ich immer weiter nach oben schweben, in diese erregende Schicht, in der man so selten lebt."
Rückkehr in die Zeit der Kindheit
Virginia Woolf: Falls das Leben einen Sockel hat, auf dem es steht, falls es eine Schale ist, die man füllt und füllt und füllt – dann steht meine Schale ohne jeden Zweifel auf dieser Erinnerung. Sie handelt davon, halb schlafend, halb wach, im Kinderzimmer in St. Ives im Bett zu liegen. Sie handelt davon zu hören, wie die Wellen sich brechen, eins, zwei, eins, zwei, und einen Wasserschwall über den Sand schäumen lassen; und sich dann wieder brechen, eins, zwei, eins, zwei, hinter einem gelben Rouleau. Sie handelt davon zu hören, wie das Rouleau seine kleine Eichel über den Boden schleift, während der Wind das Rouleau bauscht. Sie handelt davon, dazuliegen und dieses Schäumen zu hören und dieses Licht zu sehen, und zu fühlen, es ist fast unmöglich, daß ich hier bin.
Wieder ist sie dorthin zurückgekehrt wie schon so oft in ihrem Leben. Zurückgekehrt in die Zeit ihrer Kindheit und an diesen Ort, zurückgekehrt nach St. Ives, dem kleinen Küstenort in Cornwall, wo sie vom ersten bis zu ihrem zwölften Lebensjahr jeden Sommer verbracht hatte. Zurück zum Talland House mit seinem unbeschreiblichen Licht und dem weiten Blick auf die Bucht mit ihrem Leuchtturm in der Ferne.

Virginia Woolf, Der gewöhnliche Leser. Essays, Band 1. Deutsch von Hannelore Faden und Helmut Viebrock. S. Fischer, Frankfurt a. M. 1989
Virginia Woolf, Ein eigenes Zimmer, Drei Guineen. Zwei Essays. Deutsch Heidi Zerning unf Brigitte Walitzek. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2001
Virginia Woolf, Orlando. Deutsch von Brigitte Walitzek. S. Fischer, Frankfurt a. M. 1990
Virginia Woolf, Die Wellen. Deutsch von Maria Bosse-Sporleder. S. Fischer, Frankfurt a. M. 1991
Virginia Woolf, Zwischen den Akten. Deutsch von Adelheid Dormagen. S. Fischer, Frankfurt a. M. 1992
Virginia Woolf, Mrs Dalloway. Deutsch von Walter Boehlich. S. Fischer, Frankfurt a. M. 1997
Virginia Woolf, Die Jahre. Deutsch von Brigitte Walitzek. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2000
Virginia Woolf, Jacobs Zimmer. Deutsch von Heidi Zerning. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2000
Virginia Woolf, Zum Leuchtturm. Deutsch von Karin Kersten. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2003

Sommermonate in St Ives
Virginia Woolf: Es war eine große, vielfach geschwungene Bucht, gesäumt von einem Streifen Sand, mit grünen, sandigen Hügeln dahinter; und die Bögen schwangen sich vor und zurück bis zu den beiden schwarzen Felsen, auf deren einem Ende sich die schwarz-weiße Form des Leuchtturms erhob. Dieses große, fließende Wasserbecken wechselte ständig die Farbe; es war tiefblau; smaragdgrün; violett und dann stürmisch-grau und voller weißer Schaumkronen.
Youtube: A visit to Monk's House
Virginia Woolf's Holiday Homes in the Country

Virigina Woolf's Cornwall: Writer by the sea
St Ives (Cornwall)
BBC Radio 4. A Walk of One's Own: Virginia Woolf on Foot, Four Episodes by Alexandra Harris
Virginia Woolf verbrachte als Kind mit ihrer Familie von 1882 bis 1894 die Sommermonate in St Ives. Ihr Roman "Die Fahrt zum Leuchtturm" ist – obwohl auf der Hebrideninsel Skye angesiedelt – eine Reminiszenz an St Ives. Das frühere Sommerhaus von Woolfs Vater Leslie Stephen, Talland House, liegt in der Nähe von Porthminster Beach.
Klaus Reichert: "Das war ein Haus, Talland House in Cornwall, das sie jedes Jahr gemietet haben, was oberhalb von den Klippen am Meer lag, und sie schaute hinunter auf die Schiffe, die ankommen, die abfahren, auf die Fischer, natürlich die Wellen, natürlich das Licht, die Sonne, die Schatten. Sie ist eine große Malerin, ich glaube ja sowieso, dass sie am meisten gelernt hat von den Malern, mehr als von der Literatur."
Der Frankfurter Anglistikprofessor Klaus Reichert am 25.10.2002 bei einer Pressekonferenz in Darmstadt.
Der Frankfurter Anglistikprofessor Klaus Reichert © picture-alliance / dpa / Werner Baum
Klaus Reichert
Klaus Reichert, Anglist, Essayist und Herausgeber der Fischer Werkausgabe von Virginia Woolf.

Klaus Reichert, 1938 geboren, war von 1964 bis 1968 Lektor in den Verlagen Insel und Suhrkamp, von 1975 bis 2003 war er Professor für Anglistik und Amerikanistik an der Frankfurter Goethe-Universität, 1993 gründete er dort das »Zentrum zur Erforschung der Frühen Neuzeit«. Von 2002 bis 2011 war er Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Bei S. Fischer erschien zuletzt »Türkische Tagebücher. Reisen in ein unentdecktes Land« (2011) und »Wolkendienst. Figuren des Flüchtigen« (2016).

Mehr über Klaus Reichert

Virginia Woolf, Augenblicke des Daseins. Autobiographische Skizzen. Deutsch von Brigitte Walitzek, S. Fischer, Frankfurt a. M. 2012

The Recorded Voice Of Virginia Woolf. This is the only surviving recording of Virginia Woolf's voice. It is part of a BBC radio broadcast from April 29th, 1937. The talk was called "Craftsmanship" and was part of a series entitled "Words Fail Me".
Skizze der Vergangenheit
Siebenundfünfzig Jahre alt ist Virginia Woolf, als sie am 18. April 1939 mit dieser "Skizze der Vergangenheit" beginnt. Sie wird sie nicht beenden. Der letzte Eintrag erfolgt am 17. November 1940, vier Monate vor ihrem Tod. 1939 hatten sie und ihr Mann Leonard über Ostern ein paar Tage bei ihrer Schwester Vanessa in deren Haus in Charleston verbracht. Friedliche Tage auf dem Land – aber "da ist der Krieg", notiert sie in ihrem Tagebuch, "das denkbar schönste Ostern hat dieses Purpurrot zum Hintergrund". Da ist der Krieg, der immer stärker drohende Krieg, der für sie bereits allgegenwärtig ist. "Alles wird sinnlos: planen unmöglich."
Vielleicht auch deshalb der Blick zurück in eine Zeit als ihre Welt vom Licht und den Farben der Bucht und vom Klang der Wellen durchtränkt war. Vielleicht auch deshalb zurück zu ihrer frühesten Erinnerung, um sich noch einmal jenes Sockels zu vergewissern, auf dem ihr ganzes Leben gestanden hat, und darauf ruhend jene Schale – das aufnahmebereite Gefäß ihres Lebens –, das sich hat füllen und füllen und füllen können. Was für sie, die Schriftstellerin, stets bedeutet hat: schreiben und schreiben und schreiben zu können.
Virginia Woolf. Skizze der Vergangenheit. Gelesen von Sophie Rios. Autorisierte Lesefassung.
Das Betasten der roten Blumen auf Mutters Kleid. Ein alter Baum im elterlichen Garten. Und die plötzliche Erkenntnis: Ich bin sterblich. Ausgehend von diesen Eindrücken erinnert sich Virginia Woolf an ihre Kindheit im großbürgerlichen Haushalt einer neunköpfigen Familie. So persönlich wie in keinem anderen Text erzählt sie von Sommerabenteuern und Soiréen, von der Schönheit und dem frühen Tod ihrer Mutter, von der Hass-Liebe zu ihrem Vater und vom Missbrauch durch ihren Bruder. Mit analytischer Genauigkeit hält Virginia Woolf so den Zauber, aber auch die Schrecken und Abgründe ihrer Kindheit fest, die »Augenblicke des Daseins«, jene Momente höchster, intensivster Erfahrung.
Eine Porträtaufnahme der britischen Schriftstellerin Virginia Woolf (1882-1941)
Die britische Schriftstellerin Virginia Woolf (1882-1941)© imago/United Archives International
Schreibhaltungen
Virginia Woolf/Die Jahre: Sie machte auf ihrem Schoß die Hände hohl; sie hatte das Gefühl, den gegenwärtigen Augenblick umschließen zu wollen, ihn voller und voller zu füllen, mit der Vergangenheit, mit der Gegenwart, mit der Zukunft, bis er leuchtete, ganz, hell, tief von Verstehen. Es hilft nichts, dachte sie, die Hände öffnend. Der Augenblick muss entgleiten. Und dann? Auch für sie käme die endlose Nacht; das endlose Dunkel. Sie blickte vor sich hin, als sähe sie einen sehr langen dunklen Tunnel sich vor ihr auftun. Aber bei dem Gedanken an das Dunkel wunderte sie etwas; tatsächlich wurde es hell. Die Jalousien waren weiß.
Klaus Reichert: "Sie hat ja ganz unterschiedliche, nennen wir es mal, Schreibhaltungen gehabt. Eine ist das Romanschreiben, neun Romane und ein Band mit Kurzgeschichten, an denen sie bis zuletzt außerordentlich gefeilt hat. Dann gibt es Hunderte von meistens Buchkritiken, also, Rezensionen, aber auch Essays, an denen sie auch gefeilt hat wie an Kunstwerken. Dann gibt es die Briefeschreiberin, es haben sich ungefähr sechstausend Briefe erhalten. Und noch eine weitere Form ist die Form des Tagebuchs. Und die Tagebücher sind deshalb so wichtig, weil sie erstens permanent geschrieben hat und zweitens sich zum Gesetz gemacht hat, ich darf beim Schreiben nicht nachdenken. Das heißt, ich darf nicht die Zensurbehörde aufrufen, "ach, soll ich das jetzt so formulieren oder eher so, dieses Wort, na ja, es ist ein bisschen schief, ich streich' das jetzt mal durch", sondern sie hat geschrieben, geschrieben, geschrieben. Und das sind eben auch Tagebücher, die niemals zur Veröffentlichung bestimmt waren, sie wollte einfach aufschreiben, was um sie herum vor sich ging, was in ihrem Kopf war, welche Mühen sie hatte, diesen oder jenen Roman zu schreiben, oder dass sie auf irgendwelchen Parties war und den und den getroffen hatte. Das war gedacht als Material, wenn sie ihre Autobiographie schreibt, Material sammeln für später mal, um das auszuführen."

Virginia Woolf, Briefe 1. 1888-1927. Deutsch von Brigitte Walitzek. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2006
Virginia Woolf, Briefe 2. 1928-1941. Deutsch von Brigitte Walitzek. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2006
Virginia Woolf, Tagebücher 1. 1915-1919. Deutsch von Maria Bosse-Sporleder. S. Fischer, Frankfurt a. M. 1990
Virginia Woolf, Tagebücher 2. 1920-1924. Deutsch von Claudia Wenner. S. Fischer, Frankfurt a. M. 1994
Virginia Woolf, Tagebücher 3. 1925-1930. Deutsch von Maria Bosse-Sporleder. S. Fischer, Frankfurt a. M. 1999
Virginia Woolf, Tagebücher 4. 1931-1935. Deutsch von Maria Bosse-Sporleder. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2003
Virginia Woolf, Tagebücher 5. 1936-1941. Deutsch von Claudia Wenner. S. Fischer. Frankfurt a. M. 2008

Zum Leuchtturm
Dreiundvierzig Jahre alt ist Virginia Woolf, als im Sommer 1925 der Plan zu einem neuen Roman entsteht. "Ich entwerfe "To the Lighthouse"", vermerkt sie Ende Juni in ihrem Tagebuch. "Das Meer soll durchweg zu hören sein." Ebenso denkt sie über eine neue Bezeichnung für ihr Buch nach. "Anstelle von 'Roman', ein neues — von Virginia Woolf. Aber was? Elegie?" Es wird bei 'Roman' bleiben, dennoch besitzt "Zum Leuchtturm" etwas von einem Abschiedsgesang, dessen Prosa mit dem Rhythmus des Meeres unterlegt ist, dem gleichmütigen Eins-zwei, Eins-zwei seiner sich brechenden Wellen.
Denn auch mit diesem Roman – lange vor ihrer autobiographischen Skizze – kehrt sie zurück. "Der Charakter von Vater soll darin dargestellt werden; & der von Mutter; & St. Ives; & die Kindheit; & alles Übliche – Leben, Tod etc." Kehrt zurück in das Haus und die Landschaft ihrer Kindheit, in deren Atmosphäre, ihren Farben und Klängen, sie aufgewachsen ist. Zurück in die Zeit und in die Welt des ausgehenden 19. Jahrhunderts, deren Geist ihr Vater wie ihre Mutter auf geradezu exemplarische Weise verkörpert hatten. Mit ihrem Roman – ihrer 'Elegie' – nimmt sie zugleich Abschied davon.
Virginia Woolf: Früher habe ich täglich an ihn & Mutter gedacht, aber indem ich The Lighthouse schrieb, habe ich sie in meinem Geist zur Ruhe gelegt.
Nicht zuletzt ist es ein Buch über das Vergehen von Zeit überhaupt, das mit der jährlichen Sommerfrische einer Familie – der Familie Ramsey – in einem Ferienhaus auf den Hebriden beginnt und zehn Jahre später mit einer Rückkehr dorthin endet
"Zum Leuchtturm" ist Virginia Woolfs fünftes literarisches Experiment und liegt damit so zentral in ihrem Schaffen, wie der strukturgebende Baum, den die Protagonistin Lily Briscoe ganz entschieden in die leere Mitte ihres Bildes setzt, um es zu vollenden.
Ein Hörspiel in drei Teilen
Virginia Woolf: Zum Leuchtturm (1-3). Aus dem Englischen von Gaby Hartel. Bearbeitung: Gaby Hartel. Komposition: Ulrike Haage. Regie: Katja Langenbach. BR 2016. Erschienen als CD im Hörverlag
Hörbeispiele und weitere Informationen auf der Website des Bayrischen Rundfunks
Die Fahrt zum Leuchtturm, aktueller Titel Zum Leuchtturm (englisch To the Lighthouse), ist ein Roman von Virginia Woolf. Die mehrstimmige Geschichte handelt von der Ramsay-Familie und ihren Besuchen auf der schottischen Isle of Skye zwischen 1910 und 1920.
Skye [skaɪ̯] (englisch auch Isle of Skye, schottisch-gälisch An t-Eilean Sgitheanach, auch Eilean a’ Cheò, deutsch Insel des Nebels) ist die größte Insel der Inneren Hebriden. Sie liegt unmittelbar vor der Westküste des schottischen Festlands im Atlantik. Mehr bei Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Skye
Virginia Woolfs unantastbares Zentrum: Leonard
Dreißig Jahre haben sie ihr Leben miteinander geteilt. Und während dieser dreißig Jahre war es Leonard, der ihrem Leben – ihrem Geist und ihrer Seele – die nötige Stabilität gegeben hat. "Ich habe keine Peripherie; nur mein unantastbares Zentrum: Leonard", hält sie 1938 in ihrem Tagebuch fest.
Leonard Woolf: Virginia ist der einzige Mensch, den ich gut gekannt habe, der die Eigenschaft hatte, die man Genie nennen muß. Sie war eine ungewöhnlich amüsante Gesprächspartnerin, war ernsthaft oder frivol, je nachdem, wie es die Gelegenheit erforderte. Aber irgendwann bei einer Unterhaltung konnte sie plötzlich "abheben". Mich erinnerte das immer an das Aufbrechen und Überfließen der Quellen im Herbst nach dem ersten Regen. Und fast ungesteuert strömten die Wasser der schöpferischen Kraft und Phantasie hervor und versetzten sie und ihre Zuhörer in eine andere Welt.
Leonard Woolf in seiner Autobiographie "Mein Leben mit Virginia". Wie kein anderer hat er erfahren, wie sehr sie als Schriftstellerin aus diesen Quellen gelebt hat und wie sehr ihr Geist und ihre Seele zugleich durch deren Überborden gefährdet waren.

Leonard Woolf, Mein Leben mit Virginia. Erinnerungen (deutsch, hrsg. von Friederike Groth). Fischer-Taschenbuch-Verl., Frankfurt am Main ISBN 3-596-25686-0.

Virginia Woolf/Die Wellen: Nein! Ich vermochte mich nicht zu sammeln; ich konnte nicht vermeiden, daß mir die Dinge, die mich noch vor einer Minute so begierig, vergnügt, eifersüchtig, hellwach und was sonst alles gemacht hatten, ins Wasser entglitten. Ich konnte mich nicht retten aus diesem endlosen Sichwegwerfen, Sichverausgaben, dem unwillentlichen Verströmen und dem lautlosen Davontreiben dort unter den Brückenbögen hindurch, um eine Baumgruppe oder Insel herum, hinaus, wo Meeresvögel auf Pfählen sitzen, über das aufgerauhte Wasser, um zu Wellen im Meer zu werden – ich konnte mich nicht retten aus dieser Verausgabung.
Leonard Woolf: Wenn sie zu einer dieser Phantasien abhob, spürte man, daß es Inspiration war, bei der die Gedanken und Bilder hervorsprudelten, ohne daß sie sie bewußt steuerte oder kontrollierte und wie erschreckend dünn das Gedankengewebe oft ist, das das eine vom anderen trennt – die Inspiration des Genies und den Wahnsinn.
"Du sollst nicht so nervös sein, Jinny", hieß es schon als Kind. Nach dem Tod ihres Vaters, 1904, waren ihrem schweren Zusammenbruch weitere Krisen gefolgt. "Mein fester Entschluß ist, vorsichtig zu sein, nicht die Gefühle aufzupeitschen, und achtgeben, daß ich keine Kopfschmerzen bekomme", notiert sie 1910 in ihrem Tagebuch. 'Ich muss vorsichtig sein' – dieser Satz wird ihren Alltag, wird ihren Schaffensprozess ein Leben lang begleiten".
Leonard Woolf: Wenn sie sich zu sehr anstrengte, wenn sie einem ernsten physischen, geistigen oder seelischen Druck ausgesetzt war, traten sofort Symptome auf, die bei ihr ein Signal für ernste Gefahr waren. Ein sonderbares "Kopfweh" unten im Hinterkopf, Schlaflosigkeit und Gedanken, die zu rasen begannen.
Die englische Autorin, Dichterin und Gartenarchitektin Vita Sackville-West im Jahr 1960.
Die englische Autorin, Dichterin und Gartenarchitektin Vita Sackville-West im Jahr 1960.© imago /United Archives International / Jane Bown
Vita Sackville-West
Virginia ist vierzig Jahre alt, als im Dezember 1922 die zehn Jahre jüngere Vita Sackville-West in ihr Leben tritt.
Klaus Reichert: "Viele, viele ihrer Freunde waren Homosexuelle, und es gab da natürlich auch andere, lesbische Beziehungen, und ihre große Liebe war eben Vita Sackville-West. Die war verheiratet mit einem Diplomaten, Harold Nicolson, der selber auch homosexuell war, die hatten zwei Söhne, der eine ist dann auch Herausgeber ihrer Briefe geworden, Nigel Nicolson. Sie haben eine wunderbare Ehe geführt, er hatte seine Buben, und sie hatte ihre jungen Frauen."
Virginia Woolf: Wenn man mit Frauen befreundet sein könnte, wie erfreulich – eine so geheime & vertrauliche Beziehung verglichen mit der zu Männern. Warum nicht darüber schreiben? wahrheitsgetreu?
Klaus Reichert: "Sie hatte eine gewisse Scheu vor allem, was mit Sexualität zusammenhängt. Irgendwo schreibt sie mal, Kopulation sei ja wohl maßlos überschätzt. So intim ihre Tagebücher sind, sie schreibt ja über wirklich alles, auch jeglichen Anflug einer Krankheit von ihr, also, heute habe ich fast 38 Fieber, es wird alles genau vermerkt, was total ausgespart ist, auf sie selber bezogen, ist die Sexualität. Also, das ist schon so ein bisschen ein abgespaltener Bereich."
Virginia Woolf/Mrs Dalloway: Sie konnte sehen, was ihr fehlte. Es war nicht Schönheit; es war nicht Klugheit. Es war etwas Wesentliches, das eindringen konnte; etwas Warmes, das die Oberfläche durchbrach und den kalten Kontakt zwischen Mann und Frau aufrührte, oder zwischen Frauen. Denn das konnte sie undeutlich spüren. Sie stieß sich daran, hatte, der Himmel weiß wo, ein Vorurteil dagegen aufgelesen oder, wie sie fühlte, von der Natur empfangen; doch sie konnte manchmal nicht widerstehen, sich dem Reiz einer Frau auszuliefern – wie ein kaum wahrnehmbarer Duft, sie fühlte dann fraglos, was Männer fühlen. Nur für einen Augenblick; aber das war genug.
Clive Bell, der mit dem Ehepaar Nicolson befreundet war, hatte Virginia und Vita im Dezember 1922 zusammen mit anderen Gästen bei sich zum Dinner eingeladen. Während Virginia trotz erster Erfolge noch am Anfang ihres literarischen Ruhms steht – ihr Roman "Jacobs Zimmer" ist gerade bei Hogarth Press erschienen –, ist Vita Sackville-West bereits eine erfolgreiche Schriftstellerin.
Victoria Mary Sackville-West, Lady Nicolson (genannt Vita; * 9. März 1892 auf Knole House, Sevenoaks, Kent; † 2. Juni 1962 auf Sissinghurst Castle) war eine englische Schriftstellerin und Gartengestalterin.
Vita Sackville-Wests Biographie ist so etwas wie ein Gesamtkunstwerk. Ihr aristokratischer Hintergrund mit seiner Pracht und seinen Privilegien, dazu der Umstand, dass ihre Großmutter eine spanische Tänzerin war, tragen ebenso zu diesem Eindruck bei wie ihr abenteuerliches Leben. Mehr
Virginia Woolf: Gestern abend habe ich die schöne begabte Aristokratin Sackville-West getroffen. Nicht besonders nach meinem eher strengen Geschmack – blühend, bärtig, sittigfarben, mit der ganzen aristokratischen Gewandtheit und Ungezwungenheit, aber ohne künstlerischen Esprit. Sie schreibt 15 Seiten pro Tag – hat eben wieder ein Buch beendet – kennt alle Welt. Aber kann ich sie je kennenlernen? Ich soll am Dienstag zu ihr zum Dinner kommen. Keine falsche Schüchternheit oder Bescheidenheit: beim Dinner fiel ihr eine Perle auf den Teller – die sie Clive gab – bittet um Likör – vermittelt mir das Gefühl, jungfräulich, schüchtern & schulmädchenhaft zu sein. Sie ist ein Grenadier; hart; gutaussehend, männlich; mit Neigung zum Doppelkinn.

"Geliebtes Wesen...". Briefe von Vita Sackville-West an Virginia Woolf, hrsg. von Louise DeSalvo. Aus dem Englischen von Sybill und Dirk Vanderbeke, S. Fischer, Frankfurt am Main 1995
Susanne Amrain, So geheim und so vertraut. Virginia Woolf und Vita Sackville-West, Suhrkamp Verlag 1994
Vita Sackville-West, Zwölf Tage in Persien. Aus dem Englischen von Irmela Erckenbrecht, Wagenbach, Berlin 2011

Picadilly in London nach der schlimmsten der Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg im Mai 1941. 1450 starb und der Turm, Westminster Abbey und das House of Commons wurden getroffen.
Picadilly in London nach der schlimmsten der Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg im Mai 1941. © imago/United Archives International
Der Krieg
Virginia Woolf: 19. Dezember 1940
Ein Gefühl, alt zu sein, bewirkt manchmal, daß ich denke, ich kann mich nicht mehr so verausgaben wie früher. Ansonsten holen wir Atem wie immer.

24. Dezember 1940
Mit einiger Bestürzung konstatiere ich, daß meine Handschrift zittrig wird. Warum weiß ich auch nicht. Kann ich noch klare gerade Linien ziehen? Offenbar nicht.
9. Januar 1941
Leere. Eiseskälte. Stille Eiseskälte. Brennendes Weiß. Brennendes Blau. Die Ulmen rot. Wie heißt der Satz, an den ich immer denke – oder den ich vergesse. Wirf einen letzten Blick zurück auf alles Schöne.
18. Januar 1941
Am Montag waren wir in London. Wanderte in den Ruinen meiner alten Plätze herum: aufgerissen; zerlegt; die alten roten Ziegelsteine sind lauter weißes Pulver. Grauer Schmutz & zerbrochene Fenster; Schaulustige; all die Vollkommenheit geschändet & vernichtet.
Am 25. Januar 1941 wird Virginia neunundfünfzig Jahre alt. Der Winter ist diesmal außergewöhnlich streng. Das Leben in Rodmell eingeschränkt, das Benzin ist rationiert, die Lebensmittel sind knapp. "Was für eine Freude man jetzt am Essen hat." Am 26. Februar beendet sie unter großen Mühen ihren Roman. Ist unsicher, hält ihn für misslungen, will alles noch einmal überarbeiten.
Virginia Woolf am 8. März: Beobachte meine eigene Mutlosigkeit. Meine Güte, ja, ich werde diese Stimmung überwinden.
Doch Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Unfähigkeit, sich zu konzentrieren, Depressionen quälen sie. Ebenso die Angst, erneut wahnsinnig zu werden.
Virginia Woolf: Ich habe das Gefühl, dieses Mal zu weit gegangen zu sein, um noch zurückkommen zu können.
Klaus Reichert: "Sie waren aufs Land reduziert, hatten aber auch nichts zu essen, keine Butter, manchmal kein Brot, die Lebensmittelversorgung war außerordentlich schwierig. Und mit ihrer unmenschlichen Energie schreibt sie gleichzeitig an ihrem allerletzten Roman "Zwischen den Akten", ein Roman, der noch einmal, das ist ihre Absicht, noch einmal die Schönheit der englischen Kultur, des englischen Landlebens auch darstellen soll. Das verlegt sie in das Jahr, bevor die Bedrohung da war, d.h. sie schreibt unter der unmittelbaren Bedrohung etwas, was, als die Welt noch zu retten gewesen wäre, angesiedelt ist. Und gleichzeitig im Bewusstsein, es wird nichts, es kann nichts mehr werden. Und dann bei ihrer psychischen Labilität: "Ich spüre das doch wieder kommen." Jedenfalls schreibt sie das in dem letzten Brief, wo sie eben auch schreibt, so glücklich wie zwei Menschen nur werden konnten, so sind wir gewesen. Das treibt einem manchmal die Tränen in die Augen, wenn man das so liest, und der letzte Satz im Tagebuch selber heißt: "Leonard is doing the rhododendrons."
The Hours – Von Ewigkeit zu Ewigkeit von Stephen Daldry ist die Verfilmung aus dem Jahr 2002 des mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Romans Die Stunden (Originaltitel: The Hours) von Michael Cunningham. Der Film verfolgt das Schicksal dreier Frauen aus verschiedenen Generationen, deren Leben mit Virginia Woolfs Roman Mrs. Dalloway in Bezug stehen. Mehr bei Wikipedia

The Hours - Trailer bei Youtube
Virginia Woolf:
Liebster,
Ich bin mir sicher, daß ich wieder wahnsinnig werde: Ich habe das Gefühl, daß wir nicht noch eine dieser schrecklichen Zeiten durchmachen können. Und dieses Mal werde ich nicht wieder gesund werden. Ich fange an, Stimmen zu hören, und kann mich nicht konzentrieren. Also, tue ich, was das Beste zu sein scheint. Du hast mir das größtmögliche Glück geschenkt. Du warst in jeder Hinsicht alles, was jemand mir sein konnte. Ich kann nicht länger dagegen ankämpfen, ich weiß, daß ich Dein Leben ruiniere, daß Du ohne mich arbeiten könntest. Und das wirst Du ich weiß es. Du siehst ich kann nicht einmal das hier ordentlich schreiben. Ich will sagen, daß ich alles Glück meines Lebens Dir verdanke. Wenn überhaupt jemand mich hätte retten können, wärst Du es gewesen. Ich glaube nicht, daß zwei Menschen glücklicher hätten sein können als wir es waren.
Virginia
Am Freitag, dem 28. März, bringt Leonard ihr wie jeden Morgen das Frühstück ans Bett und arbeitet dann im Garten. Er glaubt, Virginia sei im Haus. Als er mittags zum Lunch hineingeht, entdeckt er ihr Verschwinden.
Leonard Woolf: Ich rannte über die Wiesen zum Fluß und sah fast sofort ihren Spazierstock am Ufer liegen. Ich suchte eine Weile und ging dann zum Haus zurück und benachrichtigte die Polizei. Es dauerte drei Wochen, bis ihre Leiche gefunden wurde, ein paar Kinder sahen sie im Fluß treiben. Die schaurige Aufgabe, sie zu identifizieren und die amtliche Untersuchung, fanden am 18. April und 19. April statt. Virginia wurde am Montag, dem 21. April, in Brighton eingeäschert. Ich ging allein hin.
Er begräbt ihre Urne zu Füßen einer großen Ulme im Garten von Monk's House. Von dort hatte man einen ungehinderten Blick über die Niederungen der Ouse und die weiten Wiesen der Downs.
Virginia Woolf/Die Wellen: Der Baldachin der Zivilisation ist ausgebrannt. Der Himmel ist dunkel wie poliertes Walbein. Doch es ist ein Züngeln am Himmel. Irgendetwas regt sich. Etwas wie Tagesanbruch liegt in der Luft. Eine Art Weißwerden des Himmels; eine Art Erneuerung. Wieder ein Tag. Wieder ein allgemeines Erwachen. Die Sterne ziehen sich zurück. Der Nebelschleier auf den Feldern verdichtet sich. Röte sammelt sich auf den Rosen. Ein Vogel zwitschert. In den Hütten zünden sie die ersten Kerzen an. Ja, dies ist die ewige Erneuerung, das unaufhörliche Ansteigen und Verebben, Verebben und Wiederansteigen.

"Ich spieße die Zeit mit der Feder auf" – Eine Lange Nacht über Virginia Woolf von Astrid Nettling, mit: Klaus Reichert, Anglist, Essayist und Herausgeber der Fischer Werkausgabe von Virginia Woolf. Es sprachen: Sprecher: Birgitta Assheuer, Andrea Wolf, Verena Buss, Kathrin Hildebrand, Walter Sittler, Rudolf Guckelsberger. Regie: Stefan Hilsbecher. Redaktion: Dr. Monika Künzel.

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