Eine Lange Nacht über Joseph Haydn

Meine Sprache versteht die ganze Welt

Ein anonymes Gemälde aus dem Civico Museo Bibliografico Musicale in Bologna zeigt Joseph Haydn mit einer Feder in der Hand
Joseph Haydn (1732-1809) hatte Lust am musikalischen Experiment. © imago images / Leemage
Von Nikolaus Scholz · 03.12.2022
Der Komponist Joseph Haydn lebte in einer schillernden, revolutionären Ära: Zusammen mit Mozart und Beethoven läutete der Österreicher die musikalische Epoche der Wiener Klassik ein - und gilt als Begründer der klassischen Symphonie.
Er ist 24 Jahre vor Mozart geboren und hat den genialen Zeitgenossen fast um 18 Jahre überlebt. Seine 77 Lebensjahre waren erfüllt von schöpferischer Vitalität und der Lust am musikalischen Experiment, worüber sich Joseph Haydn drei Jahre vor seinem Tod selbst äußerte:
"Gewöhnlich verfolgen mich musikalische Ideen bis zur Marter. Ich kann sie nicht loswerden, sie stehen wie Mauern formiert. Ist es ein Allegro, das mich verfolgt, dann schlägt mein Puls stärker, ich kann keinen Schlaf finden. Ist es ein Adagio, dann bemerke ich, dass der Puls langsamer schlägt. Die Fantasie spielt mich, als wäre ich ein Klavier."

Komponist in einer musikfanatischen Metropole

Die Lange Nacht über den am 1. April 1732 im niederösterreichischen Rohrau geborenen Komponisten Joseph Haydn präsentiert nicht nur sein überaus reiches musikalisches Œuvre im Dienste der ungarischen Fürsten Esterházy, sondern wirft insbesondere ein Schlaglicht auf das musikfanatische Wien des 18. Jahrhunderts zwischen Karl VI. und Maria Theresia: so etwa auf die Wiener Freimaurerszene und die Ausbildung und Leidensgeschichte der Kastraten zu jener Zeit.
Die Sendung widmet sich auch Haydns abenteuerlichen Reisen mit Kutsche und Schiff quer durch Europa und erzählt eine groteske Coda vom Tod des Komponisten, der mit der Eroberung Wiens durch napoleonische Truppen zusammenfällt - und dem Verbleib des von einem Bewunderer abgetrennten Schädels von Joseph Haydn.

"Wenn ich an Gott denke, ist mein Herz so voll Freude, dass mir die Noten wie von der Spule laufen."
Joseph Haydn: "Mein Fürst war mit allen meinen Arbeiten zufrieden, ich erhielt Beifall, ich konnte als Chef eines Orchesters Versuche machen, beobachten, was den Eindruck hervorbringt, und was ihn schwächt, also verbessern, zusetzen, wegschneiden, wagen; ich war von der Welt abgesondert, Niemand in meiner Nähe konnte mich an mir selbst irre machen und quälen, und so musste ich original werden."
Joseph Haydn: "Ich war nicht zum Sterben bereit und bat Gott, gnädig mit mir zu sein, und mich wieder gesunden zu lassen. Ich gelobte auch, wenn ich meine Gesundheit wiedererlangen sollte, daß ich ein Stabat zu Ehren der seeligen Jungfrau komponieren würde als Zeichen meiner Dankbarkeit. Mein Gebet wurde erhört, und ich erholte mich. Mit einem dankbaren Gefühl meiner Aufgabe machte ich mich froh an die Erfüllung meines Gelübdes und bemühte mich, das nach meinem besten Können zu tun. Als ich fertig war, sandte ich die Partitur meinen guten alten Freund Hasse. Er sandte mir eine Antwort zurück, die ich als Schatz bis zu meinem Lebensende aufbewahren werde. Sie ist voller Zuneigung und echter Frömmigkeit, denn er war nicht nur mein musikalischer, sondern auch mein geistiger Vater."
…als wäre ich ein Klavier
Ist es ein Allegro, das mich verfolgt, dann schlägt mein Puls immer stärker, ich kann keinen Schlaf finden. Ist es ein Adagio, dann bemerke ich, daß der Puls langsam schlägt. Die Phantasie spielt mich, als wäre ich ein Klavier.
Ich bin wirklich ein lebendiges Klavier. Schon seit mehreren Tagen spielt es in mir ein altes Lied, in E minor, das ich in meiner Jugend oft gespielt habe: "0 Herr! wie lieb' ich dich von Herzen". Wo ich gehe und stehe, überall hör' ich's. Aber kurios, wenn es mich so innerlich quält, nichts helfen will, um die Qual loszuwerden, und mir fällt nur mein Lied ein "Gott erhalte Franz, den Kaiser", dann wird mir leichter, es hilft.
Der siebenjährige Joseph Haydn bezauberte seine Zuhörer allein durch den reinen Klang und die schöne Intonation seines Gesanges.
So wird auch Johann Georg Reutter, der als Kapellmeister die Musik in der Wiener Stephanskirche dirigiert, auf den Knaben aufmerksam. Die Kapelle des Stephansdomes bestand damals neben Kapellmeister, Vizekapellmeister und einem Organisten aus insgesamt dreizehn Musikern – elf Streichern, einem Horn und einem Fagott – und weiteren zwölf Sängern, zu denen auch sechs Kapellknaben gehörten. Ein Jahr später, im Jahre 1740, wird Haydn auf Empfehlung von Johann Georg Reutter als einer von ihnen in das Konvikt des Stephansdomes aufgenommen. Wie alle anderen Musiker und Sänger der Domkapelle dient Haydn fortan im Bereich der Kirchenmusik, singt zu den täglichen Gottesdiensten, und darf ab und an auch in der kaiserlichen Hofkapelle aushelfen. Die Ausbildung der jungen Sänger dauert insgesamt bis zu zwölf Jahre. Neben ihrer ungeheuer prächtigen Gesangskunst erwerben sie zudem ausreichende Kenntnisse in Komposition und Instrumentalspiel. Reutter selbst, der immerhin 700 Gulden jährlich für die Ausbildung jedes Sängerknaben erhält, hat zunächst ganz andere Pläne mit dem jungen Haydn, als ihm Kompositionsunterricht zu erteilen. Da die kindliche Stimme auch bei Mitgliedern der kaiserlichen Familie überaus großen Gefallen findet, hegt er Gedanken, ob man diesen schönen Sopran nicht für ewig erhalten sollte. Er lässt den jungen Haydn zu sich rufen, und erklärt ihm, welches Glück es für ihn und seine Familie bedeute, wenn er sich einer bestimmten Operation unterziehe, die seine helle Singstimme für alle Zeiten bewahren könne. Haydn soll – geht es nach den Wünschen des Kapellmeisters - ein Kastrat werden und zukünftig seine alleinige Daseinsberechtigung im Singen finden. Ein Vorhaben, dass Joseph Haydn’s Vater energisch zu vereiteln weiß. Haydn-Biograf Georg August Griesinger schreibt:
"Haydn erhielt seine Entlassung aus dem Kapellhause im sechszehnten Jahr, weil seine Stimme gebrochen war; er konnte nicht die mindeste Unterstützung von seinen armen Eltern erwarten, und mußte daher suchen, sich bloß durch sein Talent fortzubringen. Er bezog in Wien ein armseliges Dachstübchen ohne Ofen, worin er kaum gegen den Regen geschützt war. Unbekannt mit den Annehmlichkeiten des Lebens war seine ganze Zeit zwischen Lektiongeben, dem Studium seiner Kunst, und praktischer Musik geteilt. Er spielte bei Nachtmusiken und in den Orchestern ums Geld mit, und er übte sich fleißig in der Komposition, denn ..."
"Wenn ich an meinem alten, von Würmern zerfressenen Klavier saß, beneidete ich keinen König um sein Glück." (Joseph Haydn)
Joseph Haydn, ein Gemälde von Christian Ludwig Seehas.
Der österreichische Komponist Joseph Haydn (1732-1809) auf einem Gemälde von Christian Ludwig Seehas.© imago / Collection CL / Kharbine-Tapabor
Haydn's Betragen gegen das Orchester war einnehmend und gütig; er gewann dasselbe bei der ersten Probe zu seinem Vorteil.
Er hatte eine Symphonie aufgelegt, die mit einem kurzen Adagio anfing, drei gleichtönende Noten eröffneten den Gesang; da aber das Orchester die drei Noten zu nachdrücklich anschlug, so unterbrach Haydn mit Winken und "St! St!" Das Orchester schwieg, und Salomon mußte Haydn's Meinung verdolmetschen. Darauf wurden die drei Noten wieder, aber mit nicht glücklicherem Erfolge angestrichen. Haydn unterbrach abermals mit "St! St!" Während der erfolgten Stille, äußerte ein deutscher Violoncello-Spieler, ganz nahe bei Haydn, seine Meinung gegen seinen Nachbar, und sagte in deutscher Sprache: "Du, dem sind schon die drei ersten Noten nicht recht, wie wird's mit den Übrigen aussehen?" Haydn war froh Deutsche reden zu hören, nahm diese Worte als eine Warnung an, und sagte mit der größten Höflichkeit: daß er um eine Gefälligkeit ersuche, die ganz in ihrer Macht stünde, und daß es ihm sehr Leid wäre, sich in englischer Sprache nicht ausdrücken zu können, sie möchten ihm daher erlauben, seine Meinung auf einem Instrument vortragen zu dürfen. Er nahm darauf eine Violine, und machte sich durch den wiederholten Anstrich den drei Töte so verständlich, daß das Orchester ihn vollkommen begriff. Dabei ließ es Haydn in der Folge noch nicht bewenden; er bat, wie kleine Kinder zu bitten pflegen, mit aufgehobenen Händen, nannte bald diesen, bald jenen: "mein Schatz, oder mein Engel", lud die vorzüglichsten Virtuosen oft zu Tische, damit sie gerne bei den Privatproben in seiner Wohnung erscheinen möchten; erteilte ihnen Lob und verwebte den Tadel, wenn er nötig war, auf die feinste Art in das Lob. Ein solches Betragen gewann ihm die Zuneigung aller Virtuosen, mit welchen er in Verbindung kam. (A.C. Dies, Haydn-Biograf)
Liebling der Nation
Herr Joseph Haydn, der Liebling der Nation, dessen sanfter Charakter sich jedem seiner Stücke eindrücket, repräsentiert den Wiener Geschmack in der Musik. Sein Satz hat Schönheit, Ordnung, Reinigkeit, eine feine und edle Einfalt, die schon eher empfunden wird, als die Zuhörer noch dazu vorbereitet sind. Er ist in seiner Kassation, Quatro und Trio ein reines und helles Wasser, welches ein südlicher Hauch zuweilen kräuselt, zuweilen hebt, in Wellen wirft, ohne daß es seinen Boden und Abschluß verläßt. Die monotonische Art unisono verlaufender Stimmen mit gleichlautenden Oktaven hat ihn zum Urheber und man kann ihr das Gefällige nicht absprechen, wenn sie selten und in einem haydnischen Kleide erscheint. In Symphonien ist er ebenso männlich stark als empfindsam. In Cantaten reizend, einnehmend, schmeichlerisch; und in Menueten natürlich, scherzend, anlockend. Kurz Haydn ist das in der Musik, was Gellert in der Dichtkunst ist.
Walter Reicher: "Haydn war von Statur klein, aber stämmig und von derbem Knochenbau.
Seine Stirne war breit und schön gewölbt, die Haut braun, die Augen waren lebhaft und feurig, die übrigen Gesichtszüge voll und stark gezeichnet, und aus der ganzen Physiognomie und Haltung sprach Bedächtlichkeit und sanfter Ernst.
Haydn sprach im breiten österreichischen Dialekte, und seine Unterhaltung war mit jenen komischen und naiven, dem Österreicher eigentümlichen Redensarten reichlich ausgestattet. In der französischen Sprache hatte er wenig Fertigkeit, aber die italienische sprach er geläufig und gern; in der englischen hatte er auf seinen zwei Reisen gelernt sich zur Not auszudrücken, und von der lateinischen verstand er alles, was in dieser Sprache bei dem katholischen Kultus vorkommt."
In den 1770er-Jahren ist Joseph Haydn wirklich zu einer europäischen Figur geworden
Der langjährige Intendant der Burgenländischen Haydnfestspiele Walter Reicher beschäftigt sich bis heute mit Leben und Werk des österreichischen Komponisten.
"Die Musiker, die bei ihm am Hof waren und dann eben auch durch Europa gereist sind bzw. auch Adelshöfe haben seine Musik angefangen zu sammeln. Sein Ruhm hat sich relativ schnell verbreitet dann, und die Engländer waren diejenigen, die ihm unbedingt haben wollten, und zwar bereits ab den 1780 er Jahr. Da hat’s angefangen, dass sie versucht haben, ihn zu einer Reise zu bewegen, zu einer Konzertreise nach London. Es ist nicht gelungen. Haydn hat zwar dann immer gesagt: ja ich möchte gerne hat dann schon angefangen Symphonien dafür zu komponieren, aber ist nie dazu gekommen. Sein Fürst hat ihn eigentlich nicht weggelassen. Da gibt es auch das Zitat, wo er dann sagt: ich hatte einen guten Fürsten, und ich wäre dann auch gerne irgendwo gereist, wär‘ auch gern nach Italien gegangen, aber immer, wenn ich mit diesem Ansinnen gekommen bin, hat er mich zu überzeugen gewusst, und nicht zuletzt auch mit einem Geldgeschenk. Also, er konnte nicht weg, hat ihm auch versprochen gehabt, das er bei ihm bleibt, am Hofe bleibt. Und nachdem der Fürst ja einen extensiven Konzertbetrieb und Opernbetrieb gehabt hast, speziellen in den 1780 er Jahren - also nur zum Beispiel 1785 hat es 120 Opernaufführungen gegeben, die Haydn leiten hat müssen."
Die Engländer waren aber sehr hartnäckig, es hat sogar Mitte der 1780 er Jahre einen Aufruf in einer Zeitung gegeben: es wäre doch eine patriotische Tat für junge Leute, den Haydn aus dieser Gefangenschaft aus Ungarn zu befreien, und ihn nach London zu bringen.
Im Januar 1785 erscheint im Londoner Gazetteer & New Daily Advertiser folgender Artikel
"Für einen freien Geist gibt es in der Geschichte um Haydn etwas sehr beschämendes: dieser wunderbare Mann, ein Shakespeare der Musik und Triumph unseres Zeitalters, ist verurteilt, am Hofe eines miesen deutschen Fürsten zu leben, der diese Ehre weder verdient noch zu würdigen imstande ist. Haydn, der bescheidenste und größte Mensch zugleich, hat sich mit seiner Lage abgefunden, indem er sein Leben den Riten und Zeremonien der Katholischen Kirche widmet, was er bis zum Aberglauben treibt: er findet sich damit ab, in einem winzigen Ort, nicht viel besser als ein Verlies, eingekerkert als Opfer des ihn unterdrückenden Geistes dieses kleinlichen Fürsten zu leben, und dem marktschreierischen Wesen seines zänkischen Weibes ausgeliefert zu sein. Wäre es nicht für einige strebsame junge Männer eine kreuzzugähnliche Aufgabe, ihn von diesem Schicksal zu befreien und nach Großbritannien zu versetzen, in das Land, für das seine Musik geschaffen zu sein scheint?"
Studierzimmer im Joseph Haydn-Institut in Köln mit Autographen und Bänden der Gesamtausgabe der Werke von Joseph Haydn
Studierzimmer im Joseph Haydn-Institut Köln© Joseph Haydn-Institut Köln
Die letzten Tage des Komponisten
11. Mai 1809.

Christi Himmelfahrt. Neun Uhr abends die Franzosen feuern heftig bis 12 Uhr in der Nacht, dann weniger bis 3 Uhr. Als es dämmert, stellen sie den Beschuss ein. Die Batterien der Wiener agieren sehr wenig und bleiben wirkungslos. Schrecklich sind die Brände zu sehen.
Man kann vor Glasscherben nicht gehen. Die Stadt leidet sehr, denn niemand ist vorbereitet, weil sich niemand ein solches Unglück vorstellen konnte.
Wien fällt.
Als Geste des Respekts lässt Napoleon nach dem Einmarsch in Wien vor Haydns Wohnhaus eine französische Ehrenwache aufstellen.

Haydns körperlicher Verfall schreitet rapide voran. Die letzten Tage des Komponisten schildert Diener Elßler in einem Brief an Georg August Griesinger:
"Beim Herumgehen konnte ich unsern guten Papa nicht mehr allein fortbringen und die stärkenden Mittel halfen nicht mehr. Das Kaiser-Lied wurde aber doch täglich dreimal fleißig gespielt. Den 26. Mai um halb ein Uhr mittags wurde das Lied zum letzten Mal gespielt und das dreimal hintereinander, mit Ausdruck und Geschmack, so, dass unser 'guter Papa selbst darüber staunte und sagte:
"So habe ich das Lied schon lang nicht mehr gespielt!"
Und war sehr fröhlich darüber, und hat sich auch sonst gut befunden bis abends um 5 Uhr ...
Da hat ihn ein kleiner Frost angegriffen und Kopfschmerzen.
Samstag den 27. Mai nahm die Betäubung immer mehr und mehr zu, aber er war so ruhig und willig in allem, dass wir uns alle darüber verwunderten. Unser guter Papa klagte keine Schmerzen, und wenn wir fragten, wie es ihm gehe, so bekamen wir immer zur Antwort:
"Kinder seid's getröstet, es geht mir gut!"
Den 29. Mai verlangten wir ein Consilium halten zu lassen. Da wurde der Medicus Doktor Böhm dazu bestimmt, den unser guter Papa dazu verlangte. Aber bei allen möglichen angestrengten Mitteln war alles vergebens und unser guter Papa wurde immer schwächer und ruhiger. 4 Stunden vor dem Hinscheiden hat unser Papa noch gesprochen, dann haben wir aber keinen Laut mehr gehört. 10 Minuten vor seinem Ende drückte unser guter Papa die Nannerl noch bei der Hand. Den 31. Mai früh morgens, fünf Minuten vor ein Viertel auf Eins, entschlief unser guter Papa - selig und sanft.
Die Nachricht von Haydns Tod macht rasch die Runde. Bereits am nächsten Tag, am 1. Juni 1809, findet die Beisetzung Haydns statt. An diesem heißen Fronleichnamstag nimmt auch Joseph Carl Rosenbaum - wie einige andere - um 4 Uhr nachmittags noch Abschied von Haydn.
"Er lag in seinem großen Zimmer schwarz gekleidet, gar nicht entstellt, zu seinen Füßen lagen die Ehren-Medaillen von Paris, Russland, Schweden und die hiesige Bürger-Medaille."
Um 5 Uhr wird der Eichensarg zunächst zur Gumpendorfer Kirche gebracht, dort eingesegnet und dann in den Kirchhof vor die Hundsthurmer Linie geführt. Angesichts der gespannten politischen Lage und der Juni-Hitze, die dem toten Organismus schnell zusetzen würde, muss alles sehr schnell gehen. Haydns Sarg wird ins Grab gesenkt. Die wenigen Trauergäste verlassen den Friedhof. Nur Joseph Carl Rosenbaum bleibt und beobachtet den Totengräber beim Zuschaufeln der Grube. Die beiden sind allein, und so fasst sich Rosenbaum ein Herz, nimmt den Totengräber beiseite und enthüllt ihm seinen grausigen Plan. Denn er ist ein glühender Anhänger der Schädellehre des Arztes und Anatomen Franz Joseph Gall, der bis zu seinem behördlichen Lehrverbot im Jahr 1805 in Wien praktizierte hatte.

Gall hatte in Wien eine Nobelpraxis und ein Haus mit Garten in der Ungargasse. In Schriften und Vorlesungen vertrat er die Ansicht, dass sich aus den Dellen und Buckeln der Schädelknochen, Intelligenz, Charakter und das Genie eines Menschen erschließen lassen. Das Oberflächenrelief des Kopfes sei gleichsam das Ergebnis der Aktivität des Gehirns. So, wie körperliche Betätigung die Muskulatur eines Menschen prägt, so präge die Hirnaktivität die Wölbungen des Schädels. Gall folgerte daraus, dass Genie keine in die Wiege gelegte göttliche Gabe sei, sondern ausschließlich ein Produkt der arbeitenden Hirnmasse.
Literaturliste:

Frank Huss, Joseph Haydn - Das unterschätzte Genie (Verlag Hollitzer)
Hans-Josef Irmen, Joseph Haydn - Leben und Werk (Verlag Böhlau)
Manfred Huss, Joseph Haydn (Edition Roetzer)
H.C. Robbins Landon, Haydn (Verlag Molden)
Klaus Christa, Denn das Leben ist eine zu köstliche Sache - Die Lebenskunst des Joseph Haydn (Bucher Verlag)

Schloss Esterhazy in Eisenstadt im österreichischen Burgenland. Hier hat Joseph Haydn den größten Teil seiner mehr als 1000 Werke komponiert.
Schloss Esterhazy in Eisenstadt im österreichischen Burgenland. Hier hat Joseph Haydn den größten Teil seiner mehr als 1000 Werke komponiert.© picture-alliance/ dpa
Eisenstadt - Schloss Eszterházy anno 1820.
Der strahlende C-Dur-Akkord auf dem Wort "Licht" hat seine Wirkung nicht verfehlt. Die Gäste von Fürst Eszterházy im großen Festsaal des Eisenstädter Schlosses sind erschrocken und fasziniert zugleich, ebenso wie die Besucher bei der ersten öffentlichen Aufführung von Joseph Haydns Oratorium "Die Schöpfung" im März 1799. Der kompositorische Geniestreich hatte die Zuhörer im Wiener Burgtheater dermaßen elektrisiert, dass die Aufführung minutenlang unterbrochen werden musste.
Nach der Aufführung von Haydns "Schöpfung" treffen sich die illustren Konzertbesucher noch zum Bankett mit Fürst Nikolaus Eszterházy. Unter den geladenen Gästen ist auch Herzog Friedrich von Cambridge, ein glühender Verehrer von Haydns Musik. Voll Begeisterung hebt er sein Glas und prostet Fürst Eszterházy zu:
"Wie glücklich ist der Mann, der diesen Haydn im Leben besessen hat - und: noch im Besitze seiner irdischen Reste ist!"
Der Trinkspruch des englischen Prinzen aus dem deutschen Adelshaus Hannover erinnert Fürst Eszterházy daran, dass er vor elf Jahren - gleich nach Haydns Tod 1809 - veranlasst hatte, den Leichnam seines langjährigen Hofkompositeurs nach Eisenstadt zu überführen. Doch die Politik hat den Plan des Fürsten immer wieder hinausgezögert: Erst die Eroberungskriege Napoleons. Nach dessen Sturz: der Wiener Kongress zur Neuordnung Europas. Bälle, glänzende Empfänge für Europas Adel und Diplomaten in seinem Wiener Stadtpalais ... Schließlich hat Fürst Eszterházy das Vorhaben einfach vergessen. Angeregt durch die enthusiastischen Worte Friedrichs von Cambridge ordnet er jetzt die sofortige Exhumierung Haydns an. Die Nachricht, dass Haydns Grab im Beisein von Fürst Esterházy geöffnet und die sterblichen Überreste nach Eisenstadt überführt werden sollen, macht auch in Wien schnell die Runde. Am 30. Oktober 1820 macht sich Totengräber Jakob Demuth an die Arbeit. Als er das Grab öffnet, findet er den Leichnam Haydns, allerdings ohne Kopf! Nur die Perücke!
Das ist ein Schlag für den hohen Fürsten, der bei der Ausgrabung selbst gegenwärtig ist. Entrüstet über diese Tat verlangt er die sofortige Ausforschung und Bestrafung aller, die an dieser Leichenschändung beteiligt waren. Und er ordnet an, mit der Überführung der sterblichen Überreste Haydns nach Eisenstadt noch zu warten, in der Hoffnung, der Schädel seines genialen Hofkompositeurs würde sich schließlich doch noch finden. Beamte und Spitzel schwärmen im Auftrag des Fürsten aus, um Haydns Kopf so schnell wie möglich zu finden. Denn Fürst Eszterházy fühlt sich durch den Spott und das Amusement der Wiener über seinen geköpften Hofkompositeur in Ehre und Ansehen öffentlich blamiert. Die Kriminalbeamten haben rasch einen Verdacht, wer für die Leichenschändung verantwortlich sein könnte: Sie tippen auf Josef Carl Rosenbaum und seinen Freund Johann Nepomuk Peter. Beide sind ehemalige Hörer von Galls Vorträgen. Beide besitzen eine ansehnliche Sammlung von Totenköpfen und wollen die Richtigkeit von Dr. Galls Theorien am Schädel eines Genies bestätigt finden.
So ordnet der Polizeidirektor Wiens höchstpersönlich bei Josef Carl Rosenbaum eine Haus-durchsuchung an. In aller Eile versteckt seine Frau Therese Haydns Kopf in der strohgefüllten Matratze ihres Bettes, legt sich darauf, und begrüßt die Ermittler - Unpässlichkeit vortäuschend - mit einem Bibelzitat:
"Meine Herren! Zürnet doch nicht, dass ich nicht aufstehen kann vor Euch - denn es geht mir nach der Weiber Weise!"
Unverrichteter Dinge verlassen die Kriminalisten Rosenbaums Haus.
Mittlerweile will Fürst Eszterházy - trotz fehlendem Schädel - mit der Überführung der Gebeine Haydns nicht länger warten.
Am 7. November 1820 wird Haydn in der Gruft der Bergkirche in Eisenstadt mit allem Pomp, aber ohne Kopf, beigesetzt: Die Kirchenglocken läuten, der fürstliche Hofstaat samt Leibgarde ist beim Festakt anwesend, ebenso die Franziskanermönche, die jüdische Gemeinde und die Eisenstädter Bevölkerung. Hofkapellmeister Fuchs dirigiert Mozarts Requiem.

Hinweis: Wiederholung vom 25./26.05.2019.

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