Eine Lange Nacht über Gustav Mahler

"Ich leb allein in meinem Himmel"

Undatierte Aufnahme des österreichischen Komponisten und Dirigenten Gustav Mahler (1860-1911)
Das Universum zum Tönen und Klingen bringen: Undatierte Aufnahme des österreichischen Komponisten und Dirigenten Gustav Mahler. © picture-alliance / dpa
Von Barbara Giese · 18.07.2020
Mit 37 Jahren war Gustav Mahler der jüngste Hofoperndirektor in Wien. Nachdem er die Oper verändert hatte, brachte er seine Reformvorstellungen nach New York. "Was entstanden ist, muss vergehen", war seine Philosophie.
Am 7. Juli 1860 kommt Gustav Mahler als Kind jüdischer Eltern in dem Dorf Kalischt in Böhmen zur Welt. Der Vater Bernard arbeitet als Kutscher von Spirituosen. Auf seinen Fahrten studiert er diverse Bücher, weshalb man ihn als "Kutschbockgelehrtern" bezeichnete.
Später baut der Vater eine "Rum-, Punsch-, Liquer- und Essenzenfabrik" in Iglau auf. Dort leben angesehene Kaufleute, Lehrer und Ärzte. Es gibt ein Theater, einen Musikverein, einen Männergesangsverein und eine Kaserne mit eigener Stadtkapelle.

Pianistisches Wunderkind

Gustav Mahler singt, was er hört, dann spielt er es auf seiner Ziehharmonika nach, einige Zeit später auf einem Klavier. Daraufhin engagieren die Eltern einen Klavierlehrer für ihren begabten Sohn.
Mit zehn Jahren gibt er sein erstes öffentliches Konzert als pianistisches Wunderkind. Als sein zwei Jahre jüngerer Bruder mit einer schweren Herzkrankheit ans Bett gefesselt ist, liest Mahler ihm stundenlang vor. Der geliebte Bruder stirbt im Alter von 13 Jahren.
In den folgenden Sommerferien reist Mahler zu Verwandten aufs Land. Den dort lebenden Gutsverwalter Gustav Schwarz bittet er um Hilfe, denn er möchte in Wien an der Musikhochschule Klavier studieren.
Mitte September 1875 beginnt Mahler mit 15 Jahren sein Studium am Wiener Konservatorium. Er erhält Kompositionspreise für seine Klavierquintette und Quartette und gewinnt Klavierwettbewerbe. Mahler hört neben dem Musikstudium auch Vorlesungen über Literatur, griechische Geschichte und Kunstgeschichte, später auch Philosophie.

Einsamkeit in Ungarn

Im Anschluss an das Studium verdient sich Mahler seinen Lebensunterhalt als Klavierlehrer bei einer wohlhabenden Familie in Ungarn. In Puszta-Batta fühlt er sich einsam und im Widerstreit gegen seine Umgebung.
Fotografie des jungen Gustav Mahler (1860-1911)
Gustav Mahler als junger Mann© (Imago / WHA United Archives)
"Wenn mich der scheußliche Zwang unserer modernen Heuchelei und Lügenhaftigkeit bis zur Selbstentehrung getrieben hat, wenn der unzerreißbare Zusammenhang mit unseren Kunst- und Lebensverhältnissen imstande war, mir Ekel vor allem, was mir heilig ist, Kunst, Liebe, Religion, ins Herz zu schleudern, wo ist dann ein anderer Ausweg als Selbstvernichtung. Gewaltsam zerreiße ich die Bande, die mich an den eklen schalen Sumpf des Daseins ketten, mit der Kraft der Verzweiflung klammere ich mich an den Schmerz, meinen einzigen Tröster."

Lehrjahre in Europa

Es folgen Jahre als Kapellmeister in verschiedenen europäischen Städten, in denen er die Praxis des Dirigierens verinnerlicht: Laibach, Olmütz, Kassel, Leipzig, Budapest, Hamburg. Mahler entwickelt seine eigenen Klangvorstellungen, die er oft gegen große Widerstände durchsetzen muss.
Gleichzeitig ist das Geld knapp, nach dem Tod der Eltern ist er als Ältester verantwortlich für seine vier Geschwister. Als Dirigent ist er sehr erfolgreich. Seinen Kompositionen allerdings bleibt die Anerkennung zunächst verwehrt.
Bruno Walter ist neugierig auf den Komponisten geworden und bewirbt sich als Assistent bei Mahler in Hamburg. An seine erste Begegnung mit Mahler erinnert er sich:
"Da stand er nun in Person in der Theaterkanzlei. Bleich, mager, klein von Gestalt, länglichen Gesichts, die steile Stirn von tiefschwarzem Haar umrahmt, bedeutende Augen hinter Brillengläsern, Furchen des Leides und des Humors im Antlitz. Das, während er mit einem anderen sprach, den erstaunlichsten Wechsel des Ausdrucks zeigte, eine gerade so interessante, dämonische, einschüchternde Inkarnation des Kapellmeisters Kreisler, wie sie sich der jugendliche Leser E. T. A. Hoffmannscher Phantasie nur vorstellen konnte."

Wien und die Liebe

Im Februar 1897 lässt sich Mahler katholisch taufen. Nicht zuletzt, weil ihm als Jude immer wieder Steine in den Weg gelegt werden. Nach Jahren als Kapellmeister mit geringem Einkommen tritt er schließlich im Mai eine gut dotierte Stelle als Direktor der Hofoper in Wien an, er ist gerade erst 36 Jahre alt.
Auch arbeitet er an der musikalischen Intensität, indem er von sich und den anderen immer neue Impulse fordert. Er führt bis dahin unbekannte Werke auf. Er schafft ein Ensembletheater anstelle des bis dahin üblichen Starkults.
Die Wiener Staatsoper in einer Aufnahme von 1880.
Die Wiener Staatsoper erlebte unter Mahler eine Blüte. © APA ONB
Im November lernt er bei einer gemeinsamen Einladung eine hübsche und charmante Frau kennen: Alma Schindler kommt aus einem finanziell gut gestellten Künstlerhaus. Sie ist 19 Jahre jünger als Mahler und verehrt wie er Richard Wagner. Sie spielt Klavier und komponiert. In ihrem Tagebuch heißt es:
"Abends bei Zuckerkandl. Mahler kennengelernt. Er bat mich, ihm von mir etwas zu bringen – wollte sogar gleich den Tag wissen, wann ich zu ihm käme. Ich versprach zu kommen, wenn ich etwas Gutes hätte. Ich muss sagen, er hat mir ungemein gefallen – allerdings furchtbar nervös. Wie ein Wilder fuhr er herum im Zimmer. Der Kerl besteht nur aus Sauerstoff. Man verbrennt sich, wenn man an ihn ankommt."
Ende Dezember wird durch die Wiener Freie Presse die bis dahin noch geheime Verlobung bekannt gegeben. Mahlers Freund Bruno Walter schreibt:
"Na, Kinder, was sagt Ihr zu Mahlers Verlobung? Seine Braut, Alma Schindler, ist 22 Jahre alt, groß und schlank und eine blendende Schönheit, das schönste Mädchen Wiens; aus sehr guter Familie und sehr reich. - Wir aber, seine Freunde, sind sehr besorgt wegen dieser Sache; er ist 41 Jahre und sie 22, sie eine gefeierte Schönheit, gewöhnt an ein glänzendes gesellschaftliches Leben, er so weltfern und einsamkeitsliebend; und so könnte man noch eine Menge von Bedenken anführen, aber die Liebe soll sehr groß sein."

Musikalische Triumphe und Familie

"Dass wir in Mahler einen Großen vor uns haben, ist zweifellos, es ist Urkraft in ihm und Gesundheit. Die Klarheit bei allem Komplizierten, diese Themen, oft ehern, oft volkstümlich, wenn's sein muss, volkstümlich bis zur Banalität, diese spezifisch Mahlersche Instrumentation, geistvoll und oft blendend, manchmal erdrückend bis zum Brutalen, das erzwingt Anerkennung. Den Jubel zu schildern, der nach der Symphonie ausbrach, und Mahler immer hervorrief, wohl ein Dutzend Mal, ist nicht möglich. Das war kein bloßes Feiern mehr, das war eine Huldigung."
So schreibt die Neue Musik Zeitung im Sommer 1902 über die Uraufführung der 3. Symphonie von Mahler in Krefeld. Auch als Komponist wird er nun berühmt. Anfang November wird in Wien die Tochter Maria Anna geboren. 1904 die zweite Tochter Anna Justine.
Ihn faszinieren auch neue technische Erfindungen. Er probiert bei einem Freund ein Motorrad aus, fährt Auto und spielt in Leipzig einige seiner Kompositionen auf dem ersten mechanischen Musikautomat ein, dem Welte-Mignon-Reproduktionsklavier.
Mahler arbeitet viel, seine Kompositionen treibt er zumeist in den Ferien voran, die er in den Bergen verbringt: 1906 vollendet er innerhalb von wenigen Wochen die 8. Symphonie für acht Solisten, Knabenchor, zwei gemischte Chöre und Orchester. Mit der sogenannten "Symphonie der Tausend" will er das Universum zum "Tönen und Klingen" bringen, er beschreibt sie auch als Messe:
"Alles ist nun ein Gleichnis…das Ewig Weibliche nennt nämlich das Ruhende, das Ziel – im Gegensatze zu dem ewigen Sehnen, Streben, sich Hinbewegen zu diesem Ziele – also dem Ewig Männlichen! Das Ewig Weibliche hat uns hinangezogen – Wir sind da – Wir ruhen – Wir besitzen, was wir auf Erden nur ersehnen, erstreben könnten. Der Christ nennt dies die "ewige Seligkeit", und ich musste mich dieser schönen und zureichenden mythologischen Vorstellungen als Mittel für meine Darstellung bedienen – der adäquatesten, die dieser Epoche der Menschheit zugänglich ist."

New York und Abschied

Anfang des Jahres 1907 erhält Mahler ein Angebot von dem Direktor der Metropolitan Opera in New York und schreibt:
"Ich gehe, weil ich das Gesindel nicht mehr aushalten kann. Nach Amerika fahre ich erst Mitte Jänner und bleibe bis Mitte April. Es ist alles wohlweislich überlegt. Ich riskiere nur, mich 3 Monate im Jahr unbehaglich zu fühlen, dagegen habe ich binnen 4 Jahren rein 300000 Kronen verdient."
Im gleichen Sommer stirbt seine ältere Tochter und auch seine Frau Alma leidet unter gesundheitlichen Problemen. Während einer Kur beginnt sie kurz vor ihrem 31. Geburtstag eine Affäre mit dem Architekten und späteren Bauhaus-Gründer Walter Gropius. Die Affäre bleibt Mahler nicht verborgen. Sein Herz ist gebrochen:
"Erbarmen! O Gott! O Gott! Warum hast Du mich verlassen! Dein Wille geschehe! Der Teufel tanzt es mit mir! Wahnsinn, fass mich an, Verfluchter! Vernichte mich, dass Du allein weißt, was es bedeutet. Ach! Ach! Ach! Leb wohl mein Saitenspiel! Leb wohl, leb wohl! Ach. Ach. Für Dich leben! Für Dich sterben! Almschi!

Schwere Krankheit in New York diagnostiziert

Almas Mutter schreibt an Gropius, dass die beiden in ihrer Liebe geduldig sein sollen. Mahler sei mit 49 Konzerten und der Programmkonzeption für die nächste Saison sehr beschäftigt. Aber noch ist Alma mit in New York, er vermittelt ihre Lieder an seinen Verlag und sorgt dafür, dass Almas Lied "Laue Sommernacht" im März 1911 in New York aufgeführt wird.
Doch ihm geht es in dieser Zeit gesundheitlich mit Fieber und Halsschmerzen so schlecht, dass er schließlich einige Konzerte absagen muss. Ein Spezialist diagnostiziert eine bakterielle Halsentzündung. Da der Gesundheitszustand sich nicht bessert, fährt das Paar im April nach Europa, damit Mahler in Paris von einem Bakteriologen untersucht werden kann.
Der Komponist steht an einer Schiffsrehling. 
Gustav Mahler um 1910 auf hoher See.© imago / Leemage
Der französische Arzt bestätigt die Diagnose aus New York, etwas später fällt Mahler ins Koma. Er stirbt am 18. Mai 1911 und wird auf seinen Wunsch neben dem Grab seiner ältesten Tochter ohne Musik und ohne Ansprache beigesetzt.

Literaturliste
Robert Seethaler: Der letzte Satz, Hanser, August 2020
Gustav Mahler Briefe, herausgegeben von Herta Blaukopf, Paul Zsolnay Verlag, Wien 1996
Mahler-Handbuch, herausgegeben g. von Bernd Sponheuer und Wolfram Steinbeck, Bärenreiter, Kassel 2010
Bruno Walter: Gustav Mahler, S. Fischer Verlag, Berlin/Frankfurt 1957
Alma Mahler: Die Tagebuchsuiten, herausgegeben von Antony Beaumont und Susanne Rode-Breymann, S. Fischer Verlag, Frankfurt.

Eine Produktion von Deutschlandfunk/Deutschlandfunk Kultur 2020.
Das Skript zur Sendung finden Sie hier.
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