Eine Lange Nacht über Ennio Morricone

Meister aller Genres

Ennio Morricone in weißem Hemd, dunklem Jackett und Krawatte beim Dirigieren.
Vom Italowestern "Spiel mir das Lied vom Tod" bis zu Tarantinos "Kill Bill": Der Komponist Ennio Morricone schuf Hunderte Filmmusiken und gilt als einer der größten seiner Zunft. © akg / MONDADORI PORTFOLIO/Archivio Grzegorz Galazka/Grzegorz Galazka
Von Olaf Karnik und Volker Zander · 28.08.2020
Klassik, Neue Musik, Schlager, Pop, Folklore, Beat und Bossa Nova - kaum ein Stil, den Ennio Morricone nicht grandios adaptiert hätte. Der im Juli verstorbene Komponist schrieb Hunderte Filmmusiken und blieb bis zuletzt offen für Neues in der Musik.
Filmmusik hat die Aufgabe, das auszudrücken, was durch die Bilder nicht vermittelt wird, und einer der bekanntesten Komponisten der Filmmusik ist Ennio Morricone, geboren 1928 und verstorben am 6. Juli 2020. Er komponierte ca. 500 Musiken für Spielfilme aller Art, Fernsehserien und Dokumentationen, schrieb erfolgreiche Schlager und Popsongs. Er verband Klassik und Neue Musik, Schlager und Pop, Folklore, Jazz, Folk, Beat und Bossa Nova, elektronische Musik und freie Improvisation, Zwölftonmusik, Rock und World Music – es gibt kaum ein Genre, das Morricone nicht beherrschte. Er arbeitete mit Filmregisseuren wie Sergio Leone, Pier Paolo Pasolini, Bernardo Bertolucci, Dario Argento, Quentin Tarantino, Giuseppe Tornatore oder Brian De Palma zusammen. Vom Italo-Western über den Giallo-Thriller, das Gesellschaftsdrama bis zur Erotik-Komödie definierte er die musikalische Sprache diverser Filmgattungen.

Die Anfänge

Seine Entscheidung, Komponist zu werden, begründet Morricone mit der Verpflichtung gegenüber seinem Vater, der sein Geld als Trompeter verdiente. Eines Tages drückt ihm sein Vater eine Trompete in die Hand und sagt: "Mit diesem Instrument habe ich meine Familie ernährt. Du wirst dasselbe mit deiner Familie tun." Von 1950 bis 1954 studiert er am römischen Konservatorium St. Cecilia in der Kompositionsklasse des neoklassischen Komponisten Goffredo Petrassi. Er beschäftigt sich mit der Idee der Wiederentdeckung der italienischen Musik aus dem Mittelmeerraum, um so der Tradition eine neue Stimme zu verleihen.
1957 komponiert Morricone sein erstes Konzert für Orchester, das er seinem Lehrer widmet. Damit verdient er zu wenig Geld, also klopft er an die Tür von Vincenzo Micocci, dem künstlerischen Leiter der Plattenfirma RCA. Durch ihn bekommt er neue Aufträge.

Spiel mir das Lied vom Tod und andere Italowestern

Ende 1963 klingelt Morricones Telefon und es meldet sich Sergio Leone, der ihn engagieren will. Sie kennen sich aus ihrer gemeinsamen Schulzeit in der dritten Klasse.
Mit der Ausarbeitung des Arrangements für Leones Filme will Morricone den Zuhörern die Weite der Prärie vermitteln. Er vertont Hunderte von Filmen bis weit in die 1970er-Jahre. Die Filmmusik zu "The Good, The Bad & The Ugly" (auf Deutsch "Zwei glorreiche Halunken") von 1966 komponiert Morricone schon vor den Dreharbeiten. Die Stücke werden zum Filmset gebracht und den Schauspielern zur Einstimmung während der Dreharbeiten vorgespielt – eine Methode, die sie von da an fortsetzen.
Leone verlangt eingängige Melodien, an die man sich leicht erinnert. Er will nichts Kompliziertes. Im Gegensatz zu anderen Regisseuren lässt Sergio Leone seiner Musik mehr Raum, damit sie ihr volles Potenzial entfalten kann, denn sie ist das tragende Fundament bestimmter Passagen im Film. Morricone komponiert auch für die Filme von Corbucci, in denen die Musik eine größere Vielfalt und nichts mit dem elegischen Stil der Kompositionen für Leones Western zu tun hat.

Morricone und die Nuova Consonanza

Mit einem Kreis von Freunden besucht Morricone 1958 die "Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik", in denen John Cage in Begleitung von David Tudor mit dem Absolutismus in der europäischen Neuen Musik um Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez und Luigi Nono bricht. Der totale Serialismus dieser modernen Europäer, der nichts dem Zufall überlässt, steht in der Kritik, und die Unbestimmtheit und größtmögliche Offenheit der New Yorker Komponisten um Cage werden über Nacht zum Maß aller Dinge.
1964 gründet Morricone zusammen mit seinen Kollegen Franco Evangelisti, Frederic Rzewski, Mario Bertonicini und anderen die Improvisationsgruppe Nuova Consonanza, die sich dem Ideal der instantanen Komposition im Kollektiv verschreibt. Die Gründung der Gruppe ist ausschlaggebend für die Entwicklung seiner Musik. Seine musikalischen Experimente, die keine Grenzen kennen, bilden einen Kontrast zu der Routine, die seine Filmarbeit prägt. Die Dekonstruktion der einzelnen Instrumente inspiriert ihn und erlaubt, eine spontanere kompositorische Haltung einzunehmen. Diese Gruppe und ihre musikalischen Statements entwickeln sich aus dem Faschismus, in dem sie aufgewachsen sind, und ihre wichtigste Prämisse ist die Freiheit der Komposition.
Der Komponist Ennio Morricone 1985 in Rom
Immer auf der Suche nach Neuem in der Musik: Ennio Morricone 1985 in Rom © imago/Leemage

Experimentelle Filmmusik

Der ambitionierteste Regisseur des Giallo-Genres, für dessen erste drei Thriller Morricone die Musik komponierte, ist Dario Argento. Es sind seine bis dato gewagtesten und innovativesten Filmmusiken, abgeleitet von Schönbergs Zwölftontechnik, ganz im Stil der Nuova Consonanza – mit dem Ergebnis einer Reihe von schwärmenden, aleatorischen, also scheinbar zufälligen, dissonanten Klängen. Darin herrscht eine klare Struktur, die überrascht und Unruhe erzeugt. In den Horror- und Thriller-Genres funktionieren solche Elemente sehr gut, denn die Dissonanz erzeugt beim Zuschauer Spannung und Unsicherheit.
Morricone hat viele Gesichter und komponiert für jeden Filmregisseur seine eigene, unvergleichliche Musik. Sein produktivstes Jahr ist 1968, in dem neben Meisterwerken wie "Il grande silenzio", "Teorema" oder "Un bellissimo novembre" auch seine wohl berühmteste Filmmusik für "Spiel mir das Lied vom Tod" entsteht. Insgesamt komponiert er in diesem Jahr 27 Filmmusiken und schafft es trotzdem, individuell auf die unerwartetsten Genre-Anforderungen zu reagieren.
Der klassisch ausgebildete Nachkriegs-Modernist Morricone scheut sich in den 60er- und 70er-Jahren nicht, die Hörgewohnheiten des Filmpublikums herauszufordern. Für ihn beginnt mit den 60er-Jahren ein Prozess, die komplexe Musiksprache der Serialisten in einfachere, verständlichere Formen zu übertragen. Er selber spricht von einer "Doppelästhetik", mit der er versucht, E-Musik in Richtung U-Musik zu vereinfachen. Er reduziert die Anzahl der Töne und konzentriert sich auf gleichbleibende Harmonien, die das Zuhören erleichtern und die Musik eingängiger machen. Um 1970 entwickelt er eine eigene, sehr strenge musikalische Sprache für zahlreiche Polit-Thriller, Polizei- und Mafiafilme, die er vertont. Melodien zu komponieren ist etwas, das Morricone seit seiner Kindheit tut. Er besitzt die Fähigkeit, Gedanken in Musik zu synthetisieren, bei der alle musikalischen Möglichkeiten und Ausdrucksformen ins Spiel kommen.
Mitte der 70er-Jahre nimmt Morricones Produktivität ab. Durch den Einzug neuer elektronischer Instrumente in die Popmusik Ende der 70er-Jahre bieten sich für ihn neue Möglichkeiten der Klanggestaltung. Er setzt verstärkt Synthesizer ein, wie in Aldo Lados Weltraumabenteuer "Kampf um die fünfte Galaxis" von 1979, in John Carpenters "Das Ding aus einer anderen Welt" oder Samuel Fullers "Diebe der Nacht".

Morricones Spätwerk

Mitte der 80er-Jahre beschließt Morricone, mit der Filmmusik aufzuhören, aber der Film "The Mission" (1986) von Roland Joffé berührt ihn tief, und er willigt ein, die Musik für diesen großartigen Film zu komponieren, bei der er streng nach den vatikanischen Regeln für geistliche Musik verfährt. In The Mission geht es um die Eroberung der Seelen, um eine kulturelle Umformatierung der indigenen Bevölkerung, und die Musik soll genau diese Neuformatierung zum Ausdruck bringen. Musik ist hier die Versinnlichung der Spiritualität, des Geistlichen.
Der Soundtrack von The Mission mit seinen perkussiven Leitmotiven, den an die Carmina Burana erinnernden Sakralchören und der einfach repetitiven Oboen-Melodie des Pater Gabriel ist ein weltweiter Erfolg. Er komponiert ein Phantasma der Versöhnung des Westens mit der indigenen Welt, das die Gewalt der Eroberung verschleiert.
Nach The Mission produziert er weitere Soundtracks für De Palma, Polanski, Almodóvar und andere. In Italien entsteht eine fruchtbare Zusammenarbeit mit Giuseppe Tornatore. Gut 35 Jahre nach Sergio Corbuccis "Il Mercenario" dekontextualisiert der amerikanische Regisseur Quentin Tarantino die bekannte Italowestern-Melodie für den zweiten Teil seines genreübergreifenden Rache-Epos "Kill Bill". Tarantinos Filme sind Filme über Filme, die man nicht mehr machen kann, weil die Industrie dafür nicht mehr da ist und diese Welt nicht mehr da ist. Morricones Verhältnis zu den Avancen des 35 Jahre jüngeren Tarantino ist gespalten zwischen Bewunderung und offener Kritik, denn Tarantino bringt die Musik in einen anderen, völlig fremden Kontext.
Am Anfang seiner Karriere provoziert Morricone das Publikum mit seinen Arrangements. Später beginnt er an neuen Aspekten zu arbeiten und experimentiert auf andere Weise, wie in Tornatores "Das höchste Gebot" von 2013. Er nimmt jedes Instrument einzeln auf und schreibt die Komposition erst nach dem Schnitt des Films. Er kontrolliert so die Stimmung der Musik und passt sie genau an das Bild an. Es geht ihm um Abstraktion und mathematische Klänge. Er bringt die Psychologie des Films zum Ausdruck, wie in "The Hateful Eight" von Tarrantino. Ab der ersten Szene, die wir in diesem Film von Tarantino sehen, ist klar, dass jeder auf die schlimmstmögliche Art und Weise sterben wird. Das muss Morricone in seiner Musik zum Ausdruck bringen.
Gegenseitige Respektbezeugung: Filmkomponist Ennio Morricone und Regisseur Quentin Tarantino schütteln sich die Hände beim "David di Donatello-"Filmpreis in Rom.
Gegenseitige Respektbezeugung: Filmkomponist Ennio Morricone und Regisseur Quentin Tarantino schütteln sich die Hände beim "David di Donatello-"Filmpreis in Rom.© picture alliance / dpa / Giorgio Onorati
In der Nacht zum 6. Juli 2020 stirbt Ennio Morricone im Alter von 91 Jahren in einem römischen Krankenhaus. Nach einer Oberschenkelhals-Operation in Folge eines Sturzes kommt es zu Komplikationen und einer Lungenentzündung, von der er sich nicht mehr erholt.
Eine Produktion von Deutschlandfunk/Deutschlandfunk Kultur 2020. Das Skript zur Sendung finden Sie hier.
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