China und die Neuen Seidenstraßen

Die Reise in den Westen

Luftaufnahme vom Hafen Yangpu in Hainan
Luftaufnahme vom Hafen Yangpu in Hainan im Süden von China. © Gettyimages / Liu Yang
Von Harald Brandt · 20.08.2022
Unter dem Schlagwort "Neue Seidenstraße" finanziert China seit 2013 in über 80 Ländern Infrastrukturprojekte. Offiziell geht es dabei um Frieden und Völkerverständigung. Doch dahinter steht ein globaler Macht- und Führungsanspruch.
1877 verwendete der deutsche Geograph Ferdinand von Richthofen zum ersten Mal den Begriff "Seidenstraßen" für das Netzwerk von Handelsrouten, die seit über 2000 Jahren China mit den westlichen Ländern im Nahen Osten und in Europa verbanden. Unter dem Namen "Belt and Road Initiative – BRI" hat der chinesische Präsident Xi Jinping 2013 in der kasachischen Hauptstadt Astana ein Projekt vorgestellt, das an den Glanz der alten Seidenstraßen anknüpfen soll.

Das Audio dieser Langen Nacht enthält neben der ersten und dritten Stunde der Ursprungssendung aus dem Jahre 2020 über die Neuen Seidenstraßen, das Feature „Cold War, reloaded“ ebenfalls von Harald Brandt. In diesem werden ergänzend zum Thema die Gefahren der nuklearen Bedrohung in Grenzregionen beleuchtet. Der Text dazu aus dem Jahre 2016 ist im Manuskript nachzulesen.

In dieser Langen Nacht kommen Menschen zu Wort, die in China studiert und gearbeitet haben und die sich heute beruflich mit dem Verhältnis zwischen dem "Reich der Mitte" und dem Rest der Welt auseinandersetzen. Es geht auch um die Frage, ob sich der Systemkonflikt zwischen der kommunistischen Parteiführung in China und den westlichen Demokratien zu einer offenen und möglicherweise auch nuklear ausgetragenen Auseinandersetzung entwickeln könnte.

Grundlegender Wandel im globalen Machtgefüge

Der britische Historiker Peter Frankopan sieht in der "Belt and Road Initiative" das Symbol für einen grundlegenden Wandel im geopolitischen Machtgefüge. In seinem 2019 erschienenen Buch "Die Neuen Seidenstraßen – Gegenwart und Zukunft unserer Welt" schreibt er:
"Inzwischen sind mehr als 80 Länder Teil der Initiative. Dazu gehören die zentralasiatischen Republiken, Länder Süd- und Südostasiens, des Nahen und Mittleren Ostens, die Türkei und Länder Osteuropas – aber auch Staaten in Afrika und in der Karibik. Mit insgesamt 4,4 Milliarden Menschen leben entlang der neuen Seidenstraßen zwischen China und dem östlichen Mittelmeerraum mehr als 63 Prozent der gesamten Weltbevölkerung, mit einem kollektiven Bruttoinlandsprodukt von 21 Billionen US-Dollar – oder 29 Prozent des globalen BIP."
Zusammen mit dem australischen Philosophen Clive Hamilton hat die Sinologin Mareike Ohlberg Mitte 2020 das Buch "Die lautlose Eroberung – Wie China westliche Demokratien unterwandert und die Welt neu ordnet" veröffentlicht. Beim Gespräch in einem türkischen Café in Neukölln erklärt sie, warum es so schwierig ist, die Seidenstraße-Initiative als Ganzes zu erfassen:
"Das muss man sich so ein bisschen vorstellen wie einen Topf. Der wird aufgemacht, da kann dann jeder seine Inhalte reinwerfen: ob das kulturell ist, ob das mit Handel ist, Investment, ob es andere wissenschaftliche Kooperationsprojekte sind, ob das jetzt 5G ist ... Dann kann man im Prinzip alles als ‚Neue Seidenstraße‘ umlabeln. Das hat viele Aspekte. Natürlich geht es aber auch – und das ist der Teil, der von der chinesischen Regierung abgestritten wird – um geopolitische Ambitionen, dass man natürlich auch versucht, durch dieses Großprojekt, wo man so viele Länder wie möglich an Bord kriegen will, diese Länder in ihrer Orientierung umzuordnen."

Das "chinesische Modell" wird auch im Westen attraktiver

Bei einer Forumsveranstaltung in Peking im Mai 2017 sagte der chinesische Staatspräsident Xi Jingping, dass die Neuen Seidenstraßen eine neue Ära der internationalen Zusammenarbeit und des gegenseitigen Lernens einleiten werden. BRI, die "Belt and Road Initiative" werde "Frieden bringen, das wechselseitige Verständnis unter verschiedenen Ländern fördern und der menschlichen Zivilisation Glanz verleihen".
Wenn der chinesische Staatspräsident von einer Schicksalsgemeinschaft der Menschen spricht, die durch die Neuen Seidenstraßen enger zusammenrücken würde, dann bedient er das Bedürfnis vieler Menschen, auch in der westlichen Welt, nach Orientierung und Führungsstärke. Diese Art der kulturell verbrämten Propaganda trage ihre Früchte, schreibt die Sinologin Mareike Ohlberg in "Die lautlose Eroberung":
Der chinesische Staatspräsident Xi Jinping steht redend und gestikulierend hinter einem Pult und spricht zu einer Menschenmenge vor ihm.
Xi Jinping sagt, die Entwicklung wirtschaftlicher Verbindungen entlang der alten Seidenstraße und darüber hinaus werde mit dazu beitragen, die Globalisierung wieder ins Gleichgewicht zu bringen.© picture alliance / dpa / MAXPPP
"Während frühere Generationen von politischen Führern den Begriff des ‚chinesischen Modells‘ mieden, wirbt die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) mittlerweile in anderen Ländern offen für das, was sie als den ‚chinesischen Ansatz‘ und die ‚chinesische Weisheit‘ bezeichnet. (…) Manche glauben, westliche Regierungen und Medien zeichneten ein ‚verzerrtes‘ Bild von China. Andere sind der Meinung, ein autoritäreres Regierungssystem habe seine Vorteile, wie aktuelle Umfragen zeigen, und einige Argumente der KPCh dürften tatsächlich überzeugend auf sie wirken, da die Partei Krisen in demokratischen Ländern nutzt, um auf Chinas Stärken hinzuweisen. (…) Während der Coronavirus-Krise überzeugte der Bau eines Krankenhauses innerhalb von zehn Tagen auch viele in westlichen Ländern von der vermeintlichen autokratischen Effizienz der KPCh."

Politik der Spaltung

Gerade weil viele Menschen weltweit noch immer davon überzeugt sind, dass die Demokratie das bessere politische System ist, verstärkt die kommunistische Führung in China ihren Einfluss auf die Europäische Gemeinschaft. Es geht auch darum zu verhindern, dass diese Ideen in China zu viel Gewicht bekommen. Mareike Ohlberg und Clive Hamilton in "Die lautlose Eroberung":
"Beijing möchte die Risse im atlantischen Bündnis vertiefen und gleichzeitig die Unterstützung oder zumindest einen Mangel an öffentlicher Kritik aus den europäischen Ländern nutzen, um seine Legitimität in Entwicklungsländern zu erhöhen. Parallelorganisationen helfen Beijing dabei, die EU-Länder einzeln zu bearbeiten und gegeneinander auszuspielen. (…) Unter chinesischem Druck verhinderten Ungarn und Griechenland im Juli 2016 eine gemeinsame Stellungnahme der EU zum Konflikt im Südchinesischen Meer, und im März 2017 hinderte Ungarn die EU an der Unterzeichnung eines Briefs, in dem die Folter von Rechtsanwälten in China verurteilt wurde. Im selben Jahr verhinderte Griechenland, dass die EU eine Erklärung abgab, in der die Menschenrechtslage in China kritisiert wurde."

Seidenstraße als Vorwand für Machtausbau

"Wandel durch Handel" war lange Zeit die Devise der westlichen Politik. Eine engere wirtschaftliche Verflechtung würde zwangsläufig zu einer Stärkung der demokratischen Kräfte in China führen. Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt, allerdings könnte es sein, dass sich Beijing diesen Slogan zu eigen gemacht hat und nun auf den Westen anwendet, schreibt Mareike Ohlberg:
"Das gewaltige Infrastrukturprogramm, das Beijing unter dem Namen "Belt and Road Initiative" (…) vorantreibt, ist das vollkommenste Werkzeug der wirtschaftlichen Staatskunst – oder besser: der wirtschaftlichen Erpressung. (…) Eine genaue Analyse chinesischsprachiger parteiinterner Dokumente zeigt, daß die chinesischen Analysten ‚sowohl in diplomatischen als auch in militärischen Publikationen offen darüber sprechen, die Auslandshilfe und die Seidenstraßen-Initiative als Vorwand für die Verfolgung der großen Strategie Chinas zu verwenden‘."
Clive Hamilton und Mareike Ohlberg sind überzeugt, dass China eine langfristige Strategie zur Veränderung der Kräfteverhältnisse in Asien und Europa verfolgt, die von vielen Staaten immer noch nicht erkannt oder unterschätzt wird. Die Kontrolle maritimer Infrastrukturen ist dabei von zentraler Bedeutung. In "Die lautlose Eroberung" schreiben sie:
Container im Hafen von Piräus
Der Hafen im griechischen Piräus ist mehrheitlich im Besitz des chinesischen Staatsbetriebs China Ocean Shipping Company. © picture alliance / ANE / Eurokinissi / Giannis Panagopoulos
"In Europa besitzen chinesische Unternehmen mittlerweile Flughäfen, Häfen und Windparks in neun Ländern. (…) In einer Studie für die auf Sicherheitsfragen spezialisierte Denkfabrik C4ADS gelangen Devin Thorne und Ben Spevack zu dem Ergebnis, dass China Investitionen in Häfen einsetzt, ‚um politischen Einfluß zu erlangen, um Empfängerländer einzuschränken und sowohl zivil als auch militärisch nutzbare Infrastrukturen aufzubauen, um Marineoperationen über große Distanzen zu ermöglichen‘. (…) In chinesischsprachigen Quellen beschreiben Marineexperten der Volksbefreiungsarmee die Strategie so: ‚Sorgfältig Standorte auswählen, diskret vorrücken, der Kooperation Vorrang geben und langsam infiltrieren.‘"

Wurzeln in kolonialer Erniedrigung

Katja Drinhausen, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Mercator Institut in Berlin und Spezialistin für die chinesische Zivilgesellschaft, beschäftigt sich mit den kulturellen Mustern, die im Diskurs der kommunistischen Staatsführung immer wieder durchscheinen:
"Die Erniedrigung, die die Kolonialzeit mit sich gebracht hat, dass der Westen oder die Kolonialmächte China von seinem angestammten Platz in der Welt gerissen haben, klein gehalten haben und das bis heute weiterhin tun wollen, ist ein ganz wichtiger innenpolitischer Narrativ. (…) Also, wenn wir sagen, wir stehen für Freiheit und Menschenrechte – was China zum Teil sieht und hört ist: ‚Wenn ihr sagt, individuelle Freiheitsrechte sind wichtiger als die öffentliche Sicherheit oder Gesundheit, wofür wir jetzt ein bisschen drastischere Maßnahmen ergriffen haben, dann ist das auch ein Werteimperialismus, den ihr uns aufdrängen wollt, um China weiterhin kleinzuhalten.‘ Und dass es quasi Pflicht der chinesischen Regierung ist, dagegen vorzugehen und China seinen Platz im Olymp der Welt zurückzuholen."

Auch deutsche Städte sind Teil der "Neuen Seidenstraße"

Viele Kritiker der "Belt and Road Initiative" befürchten, dass China seine wirtschaftliche Macht und seinen in manchen Bereichen schon existierenden technologischen Vorsprung benutzt, um digitale Instrumente der Überwachung zu exportieren, die der Führung im eigenen Land eine immer genauere Kontrolle der Bevölkerung erlaubt. Dazu Katja Drinhausen:
"Wenn China jetzt für gute Preise und zum Teil noch gefördert mit Krediten im globalen Süden Internet aufbaut, dann ist daran erstmal nicht s oviel Gefährliches für die Gesellschaften. Gleichzeitig ist es aber so, dass für die chinesische Regierung, also auch innenpolitisch, vom eigenen Regierungsverständnis her, dieser praktische Nutzen zur Digitalisierung der Wirtschaft, Wirtschaftswachstum, E-Commerce, usw. Hand in Hand geht, dass man eben diese digitale Infrastruktur eben auch für soziale Kontrolle nutzt."
Gerade im Bereich der Digitalisierung arbeiten aber auch deutsche Städte eng mit chinesischen Unternehmen zusammen und werden so in die "digitale Seidenstraße" eingebunden, so Katja Drinhausen: "Wir haben ja hier in Deutschland auch eine Huawei Smart City, Duisburg und Düsseldorf haben Kooperationen mit Huawei. Da geht es um die digitale Infrastruktur, um verschiedene Behörden miteinander zu vernetzen, um halt Ressourcen besser einsetzen zu können. Da geht's darum, Daten zu erfassen, aus dem Gesundheitswesen, Pandemiebekämpfung oder -prävention ist natürlich gerade ein großes Schlagwort."
Luftansicht vom Duisburger Binnenhafen.
Der Hafen von Duisburg ist einer der wichtigsten Stopps des China Railway Express. Die Stadt profitiert wirtschaftlich von der "Belt and Road Initiative".© picture alliance / Photoshot

Droht ein offener Krieg?

Der frühere Oberkommandierende der amerikanischen Armee in Europa, Lieutenant-General Ben Hodges rechnet innerhalb der nächsten zehn Jahre mit einem Krieg zwischen den USA und China. Die Ansprüche Beijings auf große Teile des Südchinesischen Meeres könnten der Auslöser für einen regionalen Konflikt sein. Die USA pochen zwar auf den internationalen Status der Seewege, aber China schafft Fakten, indem es künstliche Inseln aufschüttet und dort Militärbasen errichtet.

Hier finden Sie das vollständige Manuskript dieser Langen Nacht.

Der Physiker Giorgio Franceschini arbeitete lange Zeit bei der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt, heute ist er Referent für Außen- und Sicherheitspolitik an der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin. Auch er warnt: "Was man schon sieht, dass es grundsätzlich in den USA verstärkt zu einer Fokusverschiebung kommt von Russland oder von der Sowjetunion auf China – und China zu einem neuen Systemrivalen deklariert wird. Ich glaube, dieser Zug ist wohl nicht mehr aufzuhalten. Die Frage ist, schaffen wir es, diese systemische Rivalität zwischen den USA und China so zu managen, wie wir es im Kalten Krieg geschafft haben zwischen der Sowjetunion und dem Westen, so dass es zu keinem Großkrieg kommt. Das ist die große Herausforderung des 21. Jahrhunderts."

Europa muss sich kümmern

Was ist die Rolle Europas im sich anbahnenden Systemwettbewerb zwischen China und dem Westen? Sind die alten Demokratien stark genug, um sich gegen die autoritären Tendenzen zu wehren, die weltweit immer mehr an Einfluss zu gewinnen scheinen?
Die Sicherheitsexpertin Helena Legarda vom "Mercator Institute for China Studies" sieht die Europäer in der Pflicht, zu ihren eigenen Werten zu stehen und sich nicht nur von Wirtschaftsinteressen leiten zu lassen:
"Ich denke, China wird weiter an Bedeutung und Einfluss gewinnen. Es sei denn, alle anderen Länder unternehmen etwas dagegen. Viele werden fragen: ‚Ist es ein Problem, wenn China eine Weltmacht wird? Was geht uns das an?‘ Da sind wir als Wissenschaftler gefordert, um zu erklären, warum uns das durchaus etwas angeht. Weil die Art und Weise, wie das chinesische politische System funktioniert, und die Werte, Normen und Prinzipien, die sie durchsetzen wollen, völlig gegen unsere eigenen Interessen verstoßen. Ein Land, das an die totale Überwachung, die absolute Macht des Staates glaubt – wollen wir wirklich, dass dieses Land internationale Normen und Standards setzt? Entspricht das unseren eigenen Interessen? Wenn nicht, dann sollten wir uns darum kümmern!"

Produktion
Autor: Harald Brandt
Regie: Harald Brandt
Redaktion: Dr. Monika Künzel
Sprecherinnen und Sprecher: Nadine Kettler, Sebastian Mirow, Bodo Primus, Caroline Schreiber, Ronald Spieß; Webdarstellung: Constantin Hühn

Eine Wiederholung vom 10. Oktober 2020.

Über den Autor
Harald Brandt lebt und arbeitet als Autor und Journalist in Wiesbaden. Er studierte Philosophie an der Universität Hamburg und machte später eine Theater- und Tanzausbildung an der Universität der Provence in Aix-Marseille I. Seit 1986 ist er als freier Autor und Regisseur für deutsche und französische Rundfunkanstalten tätig. Zusammen mit anderen Künstlern betreibt er die Webseite Auditorium Mundi, bei der es um die Erforschung narrativer Strukturen in den Klängen der Welt geht.

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