Eine Lange Nacht über Argentinische Geschichte

Tango mortale

Ein Mann betrachtet schwarzweiß Portraits von Opfern der Militärdiktatur in Argentinien, die vor ihm an einer Wand hängen
30.000 Menschen wurden von der Militärdiktatur in Argentinien entführt, gefoltert und ermordet. © Imago / ZUMA Press / Julieta Ferrario
Von Margot Litten · 27.03.2021
Argentinien - ein Land mit bewegter Vergangenheit. Im Zweiten Weltkrieg kamen 40.000 jüdische Flüchtlinge, später auch Nazis, die dort untertauchten. Ab 1976 fielen dann tausende Oppositionelle der Militärdiktatur zum Opfer - Eine Spurensuche.
Buenos Aires gilt nach New York und Jerusalem als die drittgrößte jüdische Metropole der Welt. Im Barrio Once, einem der Stadtviertel, ist die Geschichte der jüdischen Emigranten bis heute präsent. Vor allem polnische Juden ließen sich dort nieder. Das Viertel ist zentral, und es war erschwinglich, ein Haus zu kaufen, oder einen Laden zu eröffnen. Viele eingewanderte Polen arbeiteten als Schneider oder als Stoffhändler. Sie sprachen jiddisch, errichteten Synagogen und jiddische Schulen für ihre Kinder. Bald gab es eine jüdische Tageszeitung, ein Theater und sogar ein jüdisches Varieté.

Nazi-Flüchtlinge willkommen

Argentinien ging wirtschaftlich gestärkt aus dem Zweiten Weltkrieg hervor. Präsident Juan Domingo Perón träumte davon, dass sein Land die Rolle einer "Dritten Weltmacht" spielte. Er verfolgte ehrgeizige Pläne, wie die Entwicklung von Nukleartechnologie und war daher besonders an Technikern und Wissenschaftlern aus Deutschland interessiert. Perón hegte große Sympathien für die europäischen Faschisten und wollte Argentinien zu einem Bollwerk gegen den Kommunismus machen.
Historische Aufnahme von Juan Domingo Perón, der mit Anzug und Krawatte vor einem Fenster sitzt.
Juan Domingo Perón war seit 1946 argentinischer Präsident, bis er 1955 vom Militär gestürzt wurde.© Imago / United Archives International
Das Chaos der Nachkriegsjahre in Europa erleichterte NS-Verbrechern die Flucht. Zuerst führte die sogenannte "Nordroute" über Skandinavien nach Buenos Aires, ab 1948 wurde die "Südroute" über die Schweiz, Österreich und Italien nach Lateinamerika genutzt. Neben dieser sogenannten "Rattenlinie" gab es die "Klosterroute": Als Mönche getarnt, schlugen sich Nazis nach Spanien durch und reisten per Schiff nach Buenos Aires. Argentiniens Konsulate in Europa, das Internationale Rote Kreuz, das den Flüchtigen Pässe auf falsche Namen ausstellte und der Vatikan halfen den flüchtigen Nazis.

Deutsche Nazis in Bariloche

Bariloche, in den 50er-Jahren ein Zehntausend-Seelen-Ort, ist längst auf über Hunderttausend Einwohner angewachsen. Das deutsch-schweizerische Flair vergangener Zeiten lebt dennoch fort, zumindest im alten Zentrum. Die Touristen, die von hier aus Patagonien erkunden, lieben es. Sie schwärmen vom Hirschgulasch im Hotel Edelweiß und vom Sauerkraut in der Bier-Wirtschaft Kunstmann. Andere deutsche Spuren in Bariloche sind dagegen schwerer zu finden.
In der Straße des 24. September in Bariloche, im Haus Nummer 165, wohnte jahrzehntelang Erich Priebke. In seinem ersten Leben war Priebke SS-Hauptsturmführer und beteiligt an der Erschießung von 335 Geiseln in den Ardeatinischen Höhlen in der Nähe von Rom. Mit Hilfe der katholischen Kirche reiste er 1948 unter falschem Namen nach Argentinien, wo er mit seiner Frau und zwei Kindern lebte. Er eröffnete das Feinkostgeschäft "WIEN", das sich einer großen Beliebtheit erfreute. 40 Jahre lang lebte er dort, geschätzt von seinen Nachbarn, Freunden und Kunden. 1984 wurde Priebke Leiter der Deutschen Schule in Bariloche, wo er problemlos seine politischen Überzeugungen vertreten konnte. Die Lehrer an der deutschen Schule rührten das Thema der Nazis in Bariloche nie an.

Argentinien unter der Militärjunta

Am 24. März 1976 verhaftete das Militär unter Führung von General Videla die argentinische Präsidentin Isabel Peron. Der Zeitpunkt für einen Putsch war günstig: Die Bevölkerung war müde vom Terror linker Guerillagruppen und rechter Paramilitärs. 30.000 Andersdenkende wurden entführt, in geheimen Konzentrationslagern gefoltert und ermordet. Bei Nacht und Nebel aus Flugzeugen ins Meer geworfen, oder in Massengräbern verscharrt. Junge Frauen und Männer, Schüler, Studenten - wo immer die Militärs auch nur den Hauch einer Opposition witterten, schlugen sie zu.
Drei nebeneinander montierte schwarzweiß Aufnahmen von Männern in millitärischen Uniformen, die stehend ins Mikrofon sprechen.
Militärische Übernahme in Argentinien am 3. März 1976, v.l.n.r. Armeegeneral Jorge Videla, Admiral Emilio Massera und Brigadier Orlando Agost© Imago / ZUMA / Keystone
Die polnische Jüdin Sara Rus, die dem Holocaust entronnen war, erlitt die zweite Tragödie ihres Lebens. Ihr Sohn Daniel, ein junger Physiker, wurde von den Militärs verschleppt. "Mein Sohn arbeitete in der Atomkommission, von dort entführten sie ihn. Erst als auch ein Freund von ihm plötzlich weg war, kriegten wir mit, dass politisch engagierte junge Menschen verschwanden. Die Polizisten sagten, ich solle ins Innenministerium gehen, das tat ich dann auch. Dieses Ministerium ist an der Plaza de Mayo, und als ich ankam, sah ich viele Frauen mit weißen Kopftüchern im Kreis gehen. Ich fragte: Was macht Ihr hier, und sie sagten, man hat uns unsere Kinder geraubt. Erst da wurde mir bewusst, dass es offenbar viele Verschwundene gab, nicht nur meinen Sohn Daniel."

Die "Madres" der Plaza de Mayo

Seit mehr als 40 Jahren demonstrieren die Mütter der Verschwundenen auf der Plaza de Mayo im Zentrum von Buenos Aires. Jahrelang leisteten sie hier den einzig sichtbaren Widerstand gegen die Junta-Generäle. Schließlich wurden sie von der internationalen Öffentlichkeit entdeckt und für ihre Zivilcourage geehrt.
Auch nach dem Ende der Diktatur geht ihr Kampf für Gerechtigkeit und gegen das Vergessen weiter. Längst hat sich eine Gruppe von Großmüttern formiert – die "Abuelas" der Plaza de Mayo, die nach ihren verschwundenen Enkeln suchen: Viele der damals Entführten waren schwanger; die Babys kamen in geheimen Entbindungsstationen zur Welt und wurden dann von Militärs adoptiert, oder an regimetreue Paare weitergegeben.

Aufarbeitung der Verbrechen während der Militärjunta

Präsident Raoul Alfonsin war entschlossen, die Vergangenheit aufzuarbeiten. Bereits drei Tage nach seiner Amtseinführung im Dezember 1983, ließ er Anklage gegen die Mörder in Uniform erheben. Zum ersten Mal versuchte eine demokratische Regierung, die vorangegangene Diktatur juristisch zu bewältigen.
An einem schwarzen Zaun hängen zwei Figuren aus Pappe. Die eine ist rot, die andere zeigt Portraits der Opfer.
Darstellung von Verschwundenen und Gefolterten der Militärdiktatur in Argentinien am Zaun der Mechanikerschule der Marine (ESMA) in Buenos Aires.© Imago / EPD
Die Öffentlichkeit stand dem Prozess eher reserviert gegenüber. Die Stimmung änderte sich jedoch schlagartig, als in einer Fernsehsendung Opfer der Repression, die der Tötungs-Maschinerie entronnen waren, aussagten. Fassungslos reagierten die Zuschauer auf die Zeugnisse der eigenen jüngsten Vergangenheit. Unter dem Motto "nunca mas - nie wieder" begann die juristische Aufarbeitung der Diktatur, die fünf wichtigsten Repräsentanten der Militärs wurden verurteilt. General Jorge Videla, erhielt lebenslänglich, ebenso Admiral Massera, der die berüchtigte Folterstätte ESMA in Buenos Aires leitete. Die Aufarbeitung der argentinischen Diktatur ist ein langer Prozess, der bis heute nicht abgeschlossen ist.

Der dunkle Schatten der Vergangenheit

Abseits der mondänen Hafenkulisse von Buenos Aires, am Rio de la Plata, wurden während der Militärdiktatur Oppositionelle gefesselt, mit Betonklötzen beschwert und bei Nacht und Nebel aus Flugzeugen ins Wasser geworfen, wo sie ertranken.
Als Kind hatte Erika Lederer viele Wochenenden mit den Eltern dort verbracht. Von den Verbrechen ahnte sie damals freilich nichts, erst recht nicht, dass der eigene Vater darin verwickelt war. Ricardo Lederer war Arzt und arbeitete in einem Folterzentrum in einer geheimen Entbindungsstation.
Erikas Kindheit ist von Gewalt geprägt. Die Mutter schaut weg, so wie sie auch die Augen davor verschließt, welcher Arbeit ihr Mann nachgeht. Als nach 2003 die juristische Aufarbeitung der Diktatur beginnt und Lederer die Verhaftung droht, erschießt er sich. Sein Schatten bleibt. Fünf Jahre nach seinem Tod wagt sich Erika Lederer zum ersten Mal aus der Deckung. "Ich bin die Tochter eines Völkermörders", schreibt sie auf Facebook. Spätestens ab da ist sie für ihre Familie eine Verräterin.
Auch Analia Kalinec, Psychologin, 40 Jahre, wird von ihrer Familie geächtet und sogar enterbt, seitdem sie sich öffentlich gegen ihren Vater – den berüchtigten Polizeikommissar "Doktor K." – positioniert hat. 2010 verurteilten ihn die Richter wegen Folter und mehrfachem Mord zu lebenslänglicher Haft. Analia versucht, sich den Schmerz von der Seele zu schreiben; ihre Geschichte erscheint 2016 in einem Buch, und so erfährt Lili Furió davon, deren Leben von einer ähnlichen Tragik bestimmt wird. Lili Furiós Vater war Geheimdienstchef in Mendoza, auch er ein Mörder, der seine Taten nicht bereut, sondern damit rechtfertigt, dass er Argentinien vor dem Kommunismus gerettet habe.

Historias desobedientes. Geschichten des Ungehorsams

"Als dieses Gesetz verabschiedet wurde, das Hafterleichterungen für Menschenrechtsverbrecher vorsah, gab es Riesenproteste in der Bevölkerung, auch Analia und ich demonstrierten, und daraufhin meldeten sich andere Töchter und Söhne von Folterknechten in den sozialen Netzwerken. Wir trafen uns mit ihnen und beschlossen, eine Gruppe zu gründen: Historias desobedientes. Geschichten des Ungehorsams. Anfangs waren wir zu sechst, bald aber schon an die 30 …"
Demonstrant*innen mit Banner. Eine Frau hält das Portrait eines Opfers der Militärdiktatur in Argentinien in ihren Händen.
Gedenken an die Opfer der Militärdikatur in Argentinien am 24. März 2018 in Buenos Aires © Imago / ZUM / Roberto Almeida Aveledo
Es ist sehr heilsam, andere Menschen mit ähnlichem Schicksal kennenzulernen, und miteinander sprechen zu können. Aber es geht uns auch darum, unseren persönlichen Schmerz und unsere Scham in eine politische Aktion umzuwandeln (...) im Sinne des historischen Gedächtnisses unseres Volkes …"
Kinder von Tätern tun sich bekanntlich oft schwerer mit der Bewältigung der Vergangenheit als die Täter selbst. "Rational kann ich mir sagen, dass ich mit den Gräueltaten meines Vaters nichts zu tun habe, aber ich trage es in mir, wie den Mythos von Sisyphos", bringt es Erika Lederer auf den Punkt.
Über die Last des Schweigens, und andererseits den Kraftakt der Konfrontation mit der Wahrheit haben sich Mitglieder der argentinischen Gruppe inzwischen auch mit Nachfahren deutscher Nazis ausgetauscht. Allen Beteiligten war dabei klar, dass es nicht darum geht, die Schuld der Väter abzutragen, sondern aus dem Schatten der Väter herauszutreten, um gegen Gewalt, gegen patriarchalische Strukturen, und für eine offene, demokratische Gesellschaft zu kämpfen.

Eine Produktion von Deutschlandfunk/Deutschlandfunk Kultur 2021. Das Skript zur Sendung finden Sie hier.

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