Eine Lange-Ernst-Jandl-Nacht

"zerbrochen sind die harmonischen krüge"

Der österreichische Schriftsteller und Dichter Ernst Jandl (aufgenommen 1978)
Der österreichische Schriftsteller und Dichter Ernst Jandl (aufgenommen 1978) © picture alliance / dpa / Porträtdienst
Von Heide und Rainer Schwocho · 13.06.2015
"Verbalkasper"! "Kulturrowdy"! So beschimpften Kritiker den Dichter Jandl in den 50er-Jahren. In den 60er-Jahren sprach Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld von dem "traurigen Fall eines Lyrikers ohne eigene Sprache". Nur zehn Jahre später waren Gedichte von Ernst Jandl Schulstoff im Deutschunterricht.
Die Salzburger Nachrichten schreiben nach seinem Tod im Jahr 2000: "Ernst Jandl war der vermessendste Dichter, den Österreich hervorgebracht hat. Das denkt man, wenn man seine Stimme hört, dröhnend, polternd, durchdringend verschafft sie den Texten Gehör." Das ist das Besondere an ihm: Jandl hat das Experiment in die Sprache hineingelegt. Und er hat diese Sprache wie kaum ein anderer selbst zum Klingen gebracht. Und so wird in dieser 'Langen Nacht' seine Geschichte erzählt: als Experiment! Jandl hat Musik in die Sprache hineingelegt. Und so wird seine Geschichte erzählt: musikalisch! Jandl hat Unlogik in die Sprache gelegt. Und so wird seine Geschichte erzählt: unlogisch! Jandl hat seine persönlichen Verletzungen in die Sprache gelegt: Also wird die Geschichte eines Menschen erzählt, der sich (von Sprache) verletzt fühlt! Wie? Mit Jandls Sprache!
Produktion: Deutschlandradio 2007

für und mit ernst - Ernst Jandl 2015: 90. Geburtstag und 15. Todestag
Eine Veranstaltung in einer Fabrikhalle in den 60er-Jahren. Dichter sind geladen, Lektoren, Verleger, Vertreter der Arbeiterklasse. Man singt gemeinsam die "Internationale", hört klassenkämpferische Texte. Plötzlich tritt ein Herr auf die Bühne. Er sieht aus wie ein Lehrer, und er ist auch einer, wie sich später herausstellt. Mit steinernem Gesicht liest er:
"ottos mops trotzt
otto: fort mops fort
ottos mops hopst fort
otto: soso ..."

"Ottos Mops. Ha. Wie seltsam.", erzählt der Verleger Klaus Wagenbach, der damals mit in der Fabrikhalle saß. "Also es dauerte eine Weile, dann kam der erste Lacher. Es war ja eine ernsthafte Angelegenheit: Literatur ist ernsthaft, nicht? Sagt man. Und dann kam der erste Lacher und noch drei." Über dem Gesicht des Verlegers breitet sich ein genussvolles Lächeln aus. Ja, er erinnert sich gern an jenen komischen Herrn, der ausgerechnet den Namen "Ernst" trug.

"Ernst", dessen Verhalten, so sagte der komische Herr einmal über sich selbst, in seiner Kindheit als mit seinem Vornamen übereinstimmend gelobt wurde...
Er nannte sich später entsetzt "Jandl".
Wer war jener Jandl?

An dieser Stelle nur soviel: Er wurde 1925 in Wien geboren, in jene Zwischenkriegsphase, als man noch tanzte auf dem Vulkan. Tanzten der kleine Bankbeamte Viktor Jandl und dessen Frau Luise? Darüber ist nichts bekannt. Betraten sie zuweilen eines der Wiener Caféhäuser, um eine "Schale Gold", einen "Kapuziner" oder einen "Braunen" zu trinken? Darüber ist nichts bekannt. Das Leben müsse einen Nutzen bringen, sagte Luise Jandl und schickte ihre Gedichte an eine Zeitschrift, damit man sie druckte. Ihr Sohn Ernst lernte früh: Alles im Leben muss einen Nutzen haben, auch das Schreiben. Also wurde er Lehrer, um sich das Schreiben leisten zu können. Dann also schrieb er:

"Falamaleikum
falamaleitum
falnamaleutum
fallnamalsooovielleutum
wennabereinmalderkrieglanggenugausist
sindallewiederda.
oderfehlteiner? "

"Verbalkasper!", "Kulturrowdy"! So beschimpften Kritiker den jungen Dichter in den 50er Jahren. In den 60er Jahren sprach selbst der Verleger Siegfried Unseld von dem "traurigen Fall eines Lyrikers ohne eigene Sprache". Zehn Jahre später waren Gedichte von Jandl Schulstoff im Deutschunterricht. Die "Salzburger Nachrichten" schrieben nach seinem Tod im Jahr 2000: "Ernst Jandl war der vermessendste Dichter, den Österreich hervorgebracht hat."
Vermessenheit?

Die hat er im Haus seiner Eltern eher nicht gelernt...
Aber als man in Jandls Muttersprache begann, Adolf Hitler heilig zu sprechen, da begann Jandl, an seiner Muttersprache zu zweifeln. Im Krieg zog er sich eine Verletzung zu. Er nannte sie: Sprachverletzung. Und als er heim kam aus dem Krieg, da sprach man immer noch jene Muttersprache, die Adolf Hitler heiliggesprochen hatte. Mehr noch, sie sei ein "ewiger Wert", sagte man in der deutschen Kulturwelt, ein "ewiger deutscher Kunstwert". Worauf Jandl laut verkündete:

"zerbrochen sind die harmonischen krüge,
die teller mit dem griechengesicht
die vergoldeten köpfe der klassiker"

Jandl hat das Experiment in die Sprache gelegt. Und so wird seine Geschichte erzählt: als Experiment. Jandl hat Musik in die Sprache gelegt. Und so wird seine Geschichte erzählt: musikalisch. Jandl hat seine Verletzungen in die Sprache gelegt: Also wird die Geschichte eines Menschen erzählt, der sich (nicht nur durch Sprache) verletzt fühlt. Wie? Mit Jandls Sprache.

Jandl (aus " Die Humanisten ")

"ich hier sein
wo sein?
ich ich sein
wer sein?"

Ernst Jandl (* 1. August 1925 in Wien; † 9. Juni 2000 in Wien) war ein österreichischer Dichter und Schriftsteller sowie Übersetzer. Er ist u.a. durch seine speziell-humoristische Sprachkunst der experimentellen Lyrik und einige markante Neologismen bekannt geworden.
Wikipedia: Ernst Jandl

Ernst Jandl
Ernst Jandl (1925-2000) gehört zu den Autoren, die radikal nicht nur in ihren jungen Jahren waren. Seine Poesie hat er mit Witz und einem ungeheueren Ernst betrieben, eine nie erlahmende Neugier trieb ihn an, Formen zu suchen und zu erproben, auf die vor ihm noch niemand gestoßen ist. Wie aber sind seine Gedichte entstanden? Wann ist bei Jandl die Entscheidung gefallen, sein Leben ganz dem Schreiben zu widmen? Lesen Sie mehr über den Lebensweg des Lyrikers, der wie kein anderer das Gedicht aus seinem Material, der Sprache, heraus revolutioniert hat. Über einen Mann, der es vom "Verderber der Jugend" zum gefeierten Poeten gebracht hat. Und über ein dichterisches Werk, das immer noch unerhört neu ist.
Weiterlesen: Randomhouse: Ernst Jandl

Randomhouse Sound-Archiv

Zitate von Ernst Jandl

Wagenbach: Ernst Jandl

Ernst Jandl
laut und luise hosi und anna
Sprechgedichte.
Gelesen vom Autor
2001 Wagenbach

Ein abwegiger Einfall, eine abstruse Eckermanniade. Dann wieder hoch komisch, beste Groteske. Und so bleibt man bis zum Ende der Lektüre her− und hingerissen. Es sind Notizen von Telefongesprächen mit Ernst Jandl, dem genialen Wiener Lyriker, aus den letzten Jahren seines Lebens, als er offensichtlich keine Werkausgaben−Supplementbände füllenden Briefe mehr schrieb, sondern lieber zum Telefonhörer griff. Notizen aus der Zeit vom 25. November 1996 bis zum 8. Juni 2000; am 9. Juni starb Jandl, kurz vor dem 75. Geburtstag. Aufgezeichnet und zu einer Art Tagebuch arrangiert hat sie Klaus Siblewski (Jahrgang 1950), der zwei Jahrzehnte Jandls Lektor beim Luchterhand Verlag war. Weiterlesen:
Die Zeit: Was denn mit "Ernst Jandl" gemeint sei

Klaus Siblewski
Telefongespräche mit Ernst Jandl
Sprecher: Paul Burian
Lübbe Audio WortArt Hörbuch
2002 Lübbe WortArt
Das Telefon war das einzige Medium, mit dem Ernst Jandl in den letzten beiden Jahren vor seinem Tod noch Kontakt nach außen halten konnte. Klaus Siblewski, sein langjähriger Lektor, protokollierte die Telefongespräche, die er mit Jandl führte. Aus diesen Aufzeichnungen ergibt sich ein ergreifendes, aber auch komisches Portrait des großen Dichters. Der Bayerische Rundfunk hat das Buch nun unter der Regie von Nikolai von Koslowski in eine Hörfassung gebracht. "Es ist eine seltsame, dem Jandl-Leser allerdings nicht ganz unbekannte Kippfigur. Der geschäftige Großschriftsteller, der es sich aufs schärfste verbittet, mit einer Clownsnase abgebildet zu werden, und der selbstspöttische Melancholiker - "Eine Biografie habe er keine vorzuweisen." (Benedikt Erenz, DIE ZEIT)

Hörspiel Pool: Ernst Jandl des BR-Online
Friederike Mayröcker
Requiem für Ernst Jandl
2001 Suhrkamp
Ein halbes Jahrhundert gemeinsamen Lebens, und das hieß ganz selbstverständlich auch: gemeinsamer literarischer Arbeit, verband und verbindet Friederike Mayröcker und Ernst Jandl. Unmittelbar nach dem Tod des Gefährten im Frühsommer des Jahres 2000 hat Friederike Mayröcker den Schmerz des Verlustes in einer stillen und zugleich leidenschaftlichen Todesklage zu bewältigen versucht, die zu einem Gesang von berückender Intensität wird. In diesem Dokument von tapferster Zartheit ruft sie Erinnerungen an Erlebnisse der gemeinsamen Jahre auf, macht sich Offengebliebenes jäh bewusst, liest Jandls Texte neu. Vor einer plötzlichen und existentiellen Leere erschreckend, fragt sie nach Möglichkeiten und Weisen des Weiterlebens und -arbeitens und hört nicht auf, zu einem Gegenüber zu sprechen. "Der Verlust eines so nahen Menschen, eines HAND- und HERZGEFÄHRTEN ist etwas ganz und gar Erschütterndes, aber vielleicht ist es so, dass man weiter mit diesem HERZ- und LIEBESGEFÄHRTEN sprechen kann nämlich weiter Gespräche führen kann und vermutlich Antworten erwarten darf. Einer einstmals so stürmischen Aura, nicht wahr. Jetzt gestammelt gehimmelt, und weltweit."

Ernst Jandl
Musik, Rhythmus, Radikale Dichtung.
Hrsg. v. Bernhard Fetz u. a. Profile
2005 Zsolnay
Mit "Laut und Luise", dem legendären Gedichtband aus dem Jahr 1966, hat Ernst Jandl einer experimentellen Lyrik zum Durchbruch verholfen, für die stets zwei Elemente wesentlich waren: Witz und existenzieller Ernst. Mit jedem seiner weiteren Gedichtbände eroberte Ernst Jandl dann lyrisches Neuland - von den Gedichten in "heruntergekommener" Sprache bis zu seiner Alterslyrik, die Krankheit, körperlichen Verfall und auch "hohe" Themen zu Gedichten verarbeitet.
Der Band 12 der Profile mit unveröffentlichten Gedichten, Briefen und Dokumenten aus dem Nachlass zeichnet das Bild eines Schriftstellers, dessen Popularität weit über die Grenzen der Literatur hinausreicht und dessen lyrische Sprachvielfalt längst in die Sprache der Alltags- und Jugendkultur eingegangen ist.

a komma punkt, Ernst Jandl
Ein Leben in Texten und Bildern.
Hrsg. v. Klaus Siblewski
2000 Luchterhand Literaturverlag
"Das Verblüffendste an allem, was der Mensch gemacht hat, ist der Umstand, dass es überhaupt zustande kam"
Seit wann hat Ernst Jandl Schriftsteller werden wollen, und warum hat er dennoch 25 Jahre als Lehrer in der Schule zugebracht? Warum hat er eigentlich mit einer beharrlichen Konsequenz fast nichts als Verse geschrieben und immer wieder Verse? 'a komma punkt' zeichnet anhand von Bildern und Texten nach, wie Ernst Jandl zum bedeutendsten Neuerer unter den Lyrikern geworden ist und gegen erbitterten Widerstand zu Ruhm gelangte.
In Bildern - schon Jandls Vater, ein leidenschaftlicher Fotograf, hat viele Aufnahmen von ihm gemacht - und Texten wird zum ersten Mal sein Lebensweg nachgezeichnet: wie aus dem Sohn eines Wiener Bank-angestellten der Lyriker wurde, der wie kein anderer das Gedicht aus seinem Material, der Sprache, heraus revolutioniert hat. a komma punkt zeigt in Wort und Bild den Weg des Dichters: vom Außenseiter und "Verderber der Jugend" zum Lyriker, dessen Heimatland Österreich es lange verpaßt hatte, ihm seine höchsten Orden an die Brust zu heften - einem Dichter, dessen Gedichte so unerhört und neu sind, dass man, seit es sie gibt, erst weiß, was man vermissen würde, wenn es sie nicht gäbe.

ernst jandl - a komma punkt

Ernst Jandl
Eile mit Feile
1 Audio-CD
Gesprochen vom Autor
2003 DHV Der HörVerlag

Jandl
"daliegen
sich anscheißen
und gewaschen werden
und daliegen,
sich anscheißen,
und gewaschen werden
und daliegen, und die letzte ölung kriegen und gewaschen werden
Der Ernst-Jandl-Preis für Lyrik ist ein Literaturpreis, der zum Gedenken an den Dichter Ernst Jandl vom österreichischen Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur eingerichtet wurde.