Eine Kulturgeschichte des Rauschs

16.04.2013
Der Politikwissenschaftler Robert Feustel unternimmt in dieser voluminösen Studie einen Rundgang durch die Epochen Europas - und beschreibt ihr jeweiliges Verhältnis zum Rausch. Im Kern steht der Zwiespalt unserer Kultur gegenüber dem Kontrollverlust.
Das Wort "Rausch" bringen wir durchweg mit Drogen – und meist auch noch mit Sucht – in Verbindung. Wie provinziell diese Sicht ist, belegt der Leipziger Politikwissenschaftler Robert Feustel in seiner voluminösen Studie, einer Art historischer Diskursanalyse durch die Kulturen und Epochen Europas seit der Renaissance. Dabei haben wir nicht einmal einen klaren Begriff dessen, was wir als Gegenteil von kühler Vernunft und klarem Bewusstsein werten.

Der Rausch hat viele Gesichter, wird der Autor nicht müde zu betonen. Und viele Erlebnisformen. Und nicht immer wurden alle, gemäß der WHO-Definition, als "Störung von Bewusstsein, kognitiven Fähigkeiten, Wahrnehmung, Affekt und Verhalten" gesehen. Seriöse Forscher widersprechen nicht nur auf der Grundlage von Kulturvergleichen: "Das Verlangen nach Rausch ist ebenso wenig anormal wie das Verlangen nach Liebe, sozialer Anerkennung, aufregenden Erlebnissen, Macht oder jeder beliebiger anderer erworbener Motivation."

Selbst Kirchenväter gestatteten, ja billigten Auszeiten vom harten Alltag, sprachen gar von einer zweiten Natur des Menschen, die auch mal zu ihrem Recht kommen müsse. So sind denn die Funktionen des Rauschs ein Leitmotiv des materialstrotzenden Buchs. Von Wellness-Therapie bis hin zur Suche nach der Wesenskern des Menschen, der unter den entfremdeten und zwanghaften Lebensformen begraben (und folglich wieder freizulegen) sei, vom utopisch erweiterten Bewusstsein bis zu Modellpsychosen zum besseren Verständnis des Wahnsinns reichen die Rechtfertigungen. Dass es ihrer überhaupt bedarf, offenbart den Zwiespalt der europäischen Kultur gegenüber dem Kontrollverlust.

Ideologische Wende Ende des 19. Jahrhunderts
Ein zweiter Strang verfolgt das Neben- und Ineinander der verschiedenen Romantisierungen des Rauschs und des Versuchs, ihn wissenschaftlich auf den Begriff zu bringen. Nicht nur die Medizin, auch Traumdeutung, Analogien zum kindlichen Bewusstsein, Visionen und Utopien, Befreiung von kultureller Hirnwäsche oder Halluzinationen markieren solche Überschneidungen und Verflechtungen. Auch kulturelle Diskurse, wie die sogenannte Lebensphilosophie samt Wissenschaftskritik, Leitvorstellungen wie "Kreativität" oder der "Orientalismus", also die westliche Projektion vor allem sinnlicher Sehnsüchte, dienten als Klammer zwischen Sehnsüchten, Utopien und solider, wenn auch selektiver Kulturwissenschaft.

Den Schwerpunkt legt Feustel dann aber doch auf die - zu Unrecht pauschal - so genannten "Drogen". Eine Konstante ist, wen überrascht’s, der Alkohol, der, weil legal, gemeinhin nicht als Droge zählt. Das galt durch die Jahrhunderte auch für andere Mittel, deren heilsame oder stabilisierende Wirkungen gepriesen und empfohlen wurden. Der uns heute vertraute Begriff Rauschgift verdankt sich einer ideologischen Wende Ende des 19. Jahrhunderts, die Rausch als Krankheit brandmarkte, als Verfall, und zudem eine immer schon unterstellte Sucht als Langzeitvergiftung begriff.

Doch auch hier wirkte jene Ambivalenz der Erkenntnisinteressen: Der Verfall einer absurden, ja vergifteten Kultur schien Anderen durchaus wünschenswert, der Ausstieg und Einstieg in Gegenwelten, eine Gegenkultur, ein hehres Ziel. So zeigt sich einmal mehr der Rausch als zentrale Bühne eines andauernden Kulturkampfs.

Besprochen von Eike Gebhardt

Robert Feustel: "Grenzgänge – Kulturen des Rauschs seit der Renaissance"
Fink-Verlag, München 2013
335 Seiten, 39,90 Euro
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