Eine kleine Armee für die deutsch-jüdische Literatur

Von Lea Hampel · 14.09.2012
Anfang der 80er-Jahre zog Rachel Salamander aus, m das "jüdische Leben in Deutschland zu rekonstruieren". Das Ergebnis ist die erfolgreichste deutsch-jüdische Buchhandlung des Landes. 30 Jahre später gibt es sieben "Literaturhandlungen" in Deutschland und Österreich.
Noch heute muss Rachel Salamander über ihre damalige Verwegenheit schmunzeln. Die 63-Jährige sitzt im Café des Jüdischen Museums am Münchner Jakobsplatz. Ihre von braunen Locken umrandeten Lachfalten vertiefen sich, wenn sie erzählt: Mit Ende Zwanzig zog sie aus, das "jüdische Leben in Deutschland zu rekonstruieren".

Es war Anfang der 80er-Jahre, die junge Rachel war mit einer ordentlichen Portion Chuzpe ausgestattet. Das Ergebnis ist – seit 30 Jahren – die "Literaturhandlung", die erfolgreichste deutsch-jüdische Buchhandlung des Landes. Ein Ableger, der Shop des Jüdischen Museums, befindet sich hier, am anderen Ende der Eingangshalle.

"Nach der Arisierung des deutschen Buchhandels war die Literaturhandlung die erste Buchhandlung wieder in Deutschland, die diesen verbrannten, vertriebenen und ermordeten Dichtern in ihren Werken ein Dach überm Kopf gegeben hat und das war so ne Art Einbürgerung wieder ins deutsche Kulturleben. Das war mir absolut wichtig, andererseits hatte es auch nen biografischen Hintergrund. Ich bin ja von allen Wurzeln und Traditionen abgeschnitten aufgewachsen – in Deutschland nach dem Krieg geboren zu sein, bedeutete einfach, vor dem Nichts zu stehen."

Dieses Nichts, diese Lücke wollte sie damals füllen: Durch deutsch-jüdische Bücher, Lesungen und Begegnungen, durch eine Mischung aus Buchladen und Salon im Stile Rachel Varnhagens. Salamander suchte sich Hilfe, warb mit ihrem legendären Charme und erhielt schließlich finanzielle Unterstützung. Schon bei der ersten Lesung im November 1982 standen die Menschen bis hinaus auf die Fürstenstraße an.

Es war der Beginn einer Erfolgsgeschichte: Sieben Literaturhandlungen in Deutschland und Österreich gibt es mittlerweile. In den Regalen stehen Werke über die Schoah, über Hofjuden und die Kabbala. Anfangs hatte Salamander noch Angst, nicht genug Literatur für die Regale zu finden, doch schnell springen Verlage auf das Thema an.

"Als ich anfing, war das Thema Judentum kein Thema. Das war nicht ‘in’ sozusagen. Ich habe das Gefühl, dass durch diesen Blick auf Literatur zum Judentum ein Label entstanden ist, das auch Verlage übernommen haben und sogar damit geworben haben, sodass im Lauf von 30 Jahren doch bestimmte Marktsegmente durch diese Arbeit entstanden sind und die haben natürlich mein Sortiment auch bereichert."

Dieser Weg war Rachel Salamander nicht in die Wiege gelegt. 1949 wird sie im Displaced-Persons-Lager in Deggendorf geboren. Sie wächst mit Jiddisch auf – wie viele Familien sitzen ihre aus Osteuropa stammenden Eltern auf gepackten Koffern. Sie wollen nach Israel. Doch als Rachels Mutter 1953 stirbt, beschließt der Vater, in Deutschland zu bleiben. Mit Ehrgeiz lernt Rachel die deutsche Sprache, liest viel, studiert Romanistik, Philosophie und Germanistik, anschließend promoviert sie. Sie will sich aneignen, was verloren ging – und stößt so auf eine Lücke, die ihr Geschäftsidee wird und Leidenschaft bleibt: Bücher zum Thema Judentum.

"Ich fühl mich durch meine Arbeit absolut... nicht nur ausgelastet, es war mir in den 30 Jahren kein einziger Tag langweilig."

Das sieht man Rachel Salamander an, wenn sie bei Veranstaltungen lauscht. Oft trägt sie ein feines Lächeln auf den Lippen, stets plaudert sie mit den Größen des jüdischen Lebens, als wären die Teil einer großen Familie. Elie Wiesel war zu Gast, Götz Aly und Lea Rabin, Henry Kissinger und Daniel Goldhagen. Doch nicht die großen Namen sind das Wichtige, sondern die Bücher selbst. Jeden der 80.000 Titel in ihrem Sortiment sucht Salamander persönlich aus. Längst hat sie Routine – und liebt doch den Moment, in dem sie ein Buch aufschlägt.

"Reich-Ranicki hat einmal sinngemäß gesagt: Das ist wie mit einer Parfümflasche, wenn ich sie aufmache, weiß ich, ob’s ein guter oder schlechter Duft ist. Und wenn man Bücher so 80 Seiten angelesen hat, weiß man eigentlich auch, ob’s was taugt."

Bücher, Menschen und Begegnungen – in ihrem Beruf vereint Rachel Salamander alles, was sie liebt. Zweimal hat ihr die Stadt München den Posten der Kulturreferentin angetragen, sie hat sich letztlich dagegen entschieden.

"Wenn ich was machen will, dann kann ich’s machen. Und ich muss nicht sozusagen in ein Amt gehen, wo ich einen riesigen Verwaltungsapparat zu schultern gehabt hätte, also ich glaub ich bin ein freierer Mensch so. Ich muss zwar auch mein Seelengeld zahlen, normale Arbeitszeiten gibt’s natürlich nicht und Ferien, weiß ich nicht, wann ich zuletzt Ferien gemacht habe, aber ich find wenn man mit sich und der Arbeit eins ist, kommen solche Gefühle nur selten hoch."

Entsprechend viel arbeitet sie – sie ist zwischen Berlin und den anderen Standorten unterwegs. Zudem gibt sie die "Literarische Welt" heraus, die Literaturbeilage der Zeitung "Die Welt". Ihr Telefon klingelt alle paar Minuten. Es gebe eine kleine Armee vieler Rachels, vermutete einst ein Freund der viel Beschäftigten, anders sei ein solches Pensum nicht zu schaffen. Erst seit 20 Jahren ist sie offiziell Deutsche – und hat doch bereits das Bundesverdienstkreuz bekommen. Sie ist stolz auf das, was sie in ihrer Wahlheimat bewirkt hat.

"[Wenn Jugendliche] früher, als jemand in der Fürstenstraße die Tür aufmachte, war ich vielleicht die erste Jüdin, die er gesehen hatte, die Atmosphäre war immer sehr viel bedeutsamer und gewichtiger. Das hat heute nichts mehr davon. Die Ehrfurcht vor dem Thema ist in dem Maße nicht mehr da, Gottseidank keine Befangenheit mehr, das hat alles einen viel normaleren Umgang bekommen, diese ganzen Verklemmtheiten da."

Bis heute hat Salamander wenig am Konzept geändert. Die "Literaturhandlung" hat jetzt einen Onlineshop, das Haupthaus ist nach Dachau gezogen. Doch große Herausforderungen entstehen von außen. Viele russische Zuwanderer mit jüdischen Vorfahren leben nun in Deutschland – sie interessieren sich für Musik und russische Literatur, doch oft fehlt die Bindung an die eigenen Wurzeln. Für Salamander bedeutet das eine Art Rückkehr zum Anfang.

"Wie ich vor 30 Jahren auch für jüdische Haushalte die nötige religiöse Literatur oder Literatur zur Tradition herbei geschafft habe, so habe ich jetzt für die Einwanderer auch angefangen, dass sie das, was ein jüdischer Haushalt braucht, bei uns finden können."