Eine italienische Reise

14.05.2010
Martin Mosebach schließt mit seinen Italien-Skizzen nahtlos an all seine ungezählten deutschen Schriftsteller-Vorfahren an: changierend zwischen Sehnsucht, Enthusiasmus und Ironie – und letztere changiert auch noch einmal zwischen milde und verzweifelt.
Aber da der Büchnerpreisträger des Jahres 2007 in seinen literarischen und gelehrten Vorlieben gern bis hinter die Aufklärung springt und das bunte Treiben zwischen Mittelalter und Neuzeit, am liebsten unter römisch-katholischer Perspektive, als imaginäres Zentrum seiner Daseinslust ausgemacht hat, erscheint sein Italien-Bild ungeahnt aktuell: sein Italien entspricht seiner Gegenwart.

Am schönsten gelingt ihm diese Übereinstimmung in einem Dialog über die Commedia dell'arte, diesem uritalienischen Stegreif- und Straßentheater, das vor der Aufklärung am populärsten ist, jedoch erst mit dieser verschwindet. Mosebach lässt einen "Kenner" und einen "Schauspieler" über dieses Genre reflektieren. Sie kommen von unterschiedlichen Interessen her, fallen sich gegenseitig ins Wort, ergänzen sich aber auch und lassen den Schluss zu, dass sowohl der historische Blick als auch der unmittelbare Bezug zur Gegenwart gleichermaßen ihre Gültigkeit haben.

Der "schnurrbärtigen" Frau "in der fettigen Kittelschürze in einer lichtlosen neapolitanischen Gasse" gesteht er auch heute noch dieselbe Körpersprache zu wie den Actricen ein paar Jahrhunderte zuvor, ja, ihre heisere Rauheit, ihr Gurgeln und ihre Kraft kann sogar mit den berühmten Auftritten der Callas verglichen werden: Es sind "Laute, die aus einem Erdschlund zu dringen scheinen". Die Commedia dell'arte ist zeitlos und gerade deshalb hohe Kunst.

Mosebach erprobt seine Technik der verschiedenen Perspektiven, des Mosaiks, der kostbaren Addition in diesen Stücken mehrfach: Rom erkundet er zu verschiedenen Tageszeiten, er beschreibt den Morgen, den Mittag, den Abend und die Nacht; Venedig hingegen nähert er sich mit allen fünf Sinnen und schildert die Meeresstadt in Kapiteln über das Hören, Riechen, Fühlen, Schmecken und Sehen.

Und die Insel Capri taucht in etlichen Miniaturen auf, die ihre Pointe alle in einem lokalen Sprichwort haben. "Ein solches Haar zieht mehr als hundert Paar Ochsen" – da fällt es Mosebach leicht, die Geschichte vom Maurer Mario zu erfinden, der auf Muschelsuche zwischen den Felsen im Wasser herumstreift und in einsamer Bucht plötzlich auf die blonde Schwedin trifft. Hier, in den Capri-Geschichten, ist Mosebach am archaischsten, in diesen Wortwelten schwelgt er. Die Familienszenen um Maria, das Kochen, das Essen und das Schlafen beschwören das zeitlose, ländliche, ursprüngliche Italien, das am liebsten auch die Gegenwart überdauern möchte – und in der jemand wie Berlusconi oder die unmittelbare Zeitgeschichte gar keinen Platz mehr hat.

Besprochen von Helmut Böttiger

Martin Mosebach: Die schöne Gewohnheit zu leben. Eine italienische Reise
Berlin Verlag, 2010
188 Seiten, 8,90 Euro
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