Eine Insel der Anarchie

Von Katja Bigalke · 26.07.2010
Eine Kaufhausruine in bester Innenstadtlage, offen für alle: Das Berliner Kunsthaus Tacheles erinnert bis heute an die Aufbruchszeit der 90er Jahre - nun soll es geschlossen werden. Doch es regt sich Protest.
Mit Spontilyrik und schrillen Kostümen gegen die Macht des Kapitals: Heute Nachmittag erlebten die Touristen auf der Oranienburger Straße einen seltsamen Aufzug: Knapp 100 Tacheles-Sympathisanten versammelten sich zur Demonstration gegen das drohende Aus des Künstlerhauses. Im kreativen Plastikflaschendress protestierte Adler AF:

"Mir geht es hier um mein Studio in erster Linie, weil ich im vierten Stock seit vielen Jahren künstlerisch tätig bin in der absoluten Freiheit, was ich sonst nirgends finde. Zum zweiten geht es mir darum, diesen Platz zu erhalten für Berlin, für die Berliner Kunstszene, anarchistisch, frei, unkonventionell, trashig."

Auch wenn die Hoffnung bekanntlich zuletzt stirbt: Die rechtliche Lage des Tacheles ist höchst prekär. Seit zwei Jahren hat der mittlerweile insolvente Betreiberverein keinen ordentlichen Mietvertrag mehr, das Haus steht unter Zwangsverwaltung. Mehr als 75 Millionen Euro Schulden lasten auf dem Grundstück mit dem Kunsthaus, angehäuft vom Immobilieninvestor Anno Jagdfeld, der mit seinen großen Plänen scheiterte. Jetzt will sich sein Geldgeber, die HSH Nordbank, wenigstens einen Teil des Geldes zurückholen, das Gelände räumen und zwangsversteigern.

Vor 20 Jahren, im Februar 1990, besetzten dreißig ostdeutsche Künstler die zur Sprengung bestimmte Kaufhausruine in bester Innenstadtlage. Sie schufen hier ein Labor nichtbürgerlicher Existenz und Kunstproduktion, das schon bald in keinem Berlin-Reiseführer fehlte. Das Tacheles wurde mit seinen Ausstellungen und Partys, Konzert- und Kinoveranstaltungen zum Symbol der wilden Übergangszeit in den 90ern. Etliche Karrieren starteten hier. Jochen Sandig, heute künstlerischer Leiter des Radialsystems, gehörte zu den Besetzern. Die Skandalrocker von Rammstein gaben hier ihre ersten Konzerte. Doch auch weniger Berühmte, wie der chilenische Theatermacher Paulo San Martin erinnern sich gern an die Euphorie der Anfangszeit.

"Es war super aktiv, es war wie ein surrealistischer Film. Kurz nach der Wende, wo meine Erziehung dann ein weißes Blatt war, war das so der Ort, wo ich was gefunden habe, wo man was machen konnte."

Ästhetische Avantgarde blieb das Tacheles nicht sehr lange, aber es blieb sich treu. Professioneller geführte Institutionen wie die Kunstwerke oder die Volksbühne verkörperten bald besser den neuen Berliner Aufbruch, dafür stellte das Tacheles weiter Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten für seine zunehmend internationaler werdende Klientel zur Verfügung. 30 Ateliers sind es noch heute, in denen knapp 70 Künstler arbeiten.

"Ich mag an diesem Atelier, dass es historischen Charakter hat; man sieht die Geschichte des Hauses und die Spuren der Künstler, die hier vorher waren."

Das sagt der Illustrator Roman Kroke, der in der vierten Etage des Hauses an seinen Storyboards arbeitet.

Die italienische Malerin Barbara Fragonia, eine Kritikerin der Politik Berlusconis, arbeitet im Tacheles auch als Kuratorin. Mittlerweile hat sie über 200 internationale Künstler ausgestellt. Sie schätzt das Haus, weil hier Leute jenseits des Mainstreams ihre Werke zeigen können.

"Ich hatte in Italien nie eine solche Chance. Meine Arbeit ist sehr stark. Manche finden sie vielleicht abstoßend. Aber hier darf ich das zeigen. In Italien kriegt man dann gesagt, du warst nicht auf der Akademie, du bist zu alt; da bist du ein Niemand."

Trotz allem blieb in der Kunstszene Berlins ein kollektiver Aufschrei gegen die Räumung des Hauses aus: Einzelne Künstler wie Jonathan Meese oder Ben Becker bekundeten zwar Solidarität. Viele andere halten das Tacheles mittlerweile aber für eine überholte Nostalgieveranstaltung ohne ernstzunehmende künstlerische Leistungen wie etwa Friedrich Loock von der Galerie "Wohnmaschine".

"Das spannende war, dass das Haus ja ein Ort war, wo sich Kunst besitzfrei entwickelt hat. Also diese unglaubliche Offenheit dort alles zu tun von bildender Kunst über Technoveranstaltungen, Musik, Performance hat das Haus ja in den ersten Jahren auch wirklich interessante Projekte hervorgebracht. Aber ehrlich gesagt, seit zehn Jahren bin ich nicht mehr in dem Gebäude gewesen und sehe auch nichts mehr, was mich interessiert."

Ganz und gar nicht uninteressant scheint das Tacheles nach wie vor für die 300.000 Touristen zu sein, die das Haus jährlich besuchen. So hat Linda Cerna, Sprecherin des Betreibervereins Tacheles e.V. durchaus noch Hoffnung, dass die Politik dieses gewachsene Berliner Symbol am Ende retten wird:

"Wir erwarten von der Stadtpolitik, dass sie eben nicht zuschaut, wie hier eine Institution nach der anderen zugunsten von Interessen von Privatinvestoren verscherbelt werden, sondern dass man eben hier die Interessen der Allgemeinheit seitens der Landesbank ganz klar einfordert."

Gleichgültig ist das Tacheles dem Berliner Senat auch nicht. Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit und sein Kulturstaatsekretär Andre Schmitz würden den Ort gern bewahrt sehen, doch mehr als freundliche Appelle an den künftigen Investor sind von ihnen kaum zu erwarten. Das Grundstück ist für das Land unbezahlbar, nicht einmal die Mietschulden wird man übernehmen wollen. So richten sich die Tacheles-Aktivisten bereits auf die nächste Stufe der Auseinandersetzung ein. Sollten ihre Forderungen bis Mittwoch ungehört verhallen, wollen sie im Foyer einen Hungerstreik beginnen.
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