Eine gnadenlos intime Zeit

07.12.2011
Modell sitzen ist harte Arbeit - das hat der Kunsthistoriker Martin Gayford erfahren, als er sich vom englischen Maler Lucian Freud 2003, Enkel von Sigmund Freud, porträtieren ließ. In seinem Buch beschreibt der Autor seine Gefühle als Bildvorlage.
Nein, lesen könne er nicht bei den Porträtsitzungen. Bewegen dürfe er sich natürlich auch nicht. Er müsse bitte immer die gleiche Kleidung tragen und solle sich jetzt einfach so auf den Ledersessel setzen, wie es ihm natürlich vorkäme. Schließlich wolle er ihm – wie all seinen Modellen – so wenig wie möglich aufzwingen.

So unterwiesen nimmt der Kunsthistoriker Martin Gayford am 28. November 2003 Platz im Atelier des englischen Malers Lucian Freud. Mehr als sieben Monate später, nach insgesamt 40 Sitzungen, ist sein Porträt "Mann mit blauem Schal" fertig. Damit endet eine "gnadenlos intime" Zeit, die geprägt ist von Spannung, Intensität und Konzentration, aber auch von Stimmungen wie Frustration, Langeweile und Angst. Von Gesprächen über Politik, Kunst und Kollegen und von Erzählungen aus Freuds Leben. All das hat Martin Gayford in seinem Tagebuch festgehalten, das nun erstmals in deutscher Übersetzung vorliegt.

Hatte er zunächst geglaubt, Modellsitzen sei ein bisschen wie ein Besuch beim Friseur – man erlebe ein Gefühl von konzentrierter Wachheit, müsse aber nichts tun, nur ab und an den Kopf heben –, so wird ihm bald klar, dass er sich geirrt hat. Während Freud ihn unablässig beobachtet, jeden Zoll seines Gesichtes mustert, ihn minutiös studiert und langsam auf die Leinwand transponiert, erfährt sich Gayford als Geheimnis, das gelöst werden will. Vom Maler und von ihm selbst. Ein magischer Prozess hat begonnen, nach fünf Sitzungen bereits führt das Bild ein Eigenleben und Gayford stellt fest, dass sie von nun an "zu dritt im Atelier sind".
Eigentlich aber sind sie noch mehr. Denn Raffael, Leonardo, Tizian, El Greco, Poussin, Bacon, Picasso (um nur wenige zu nennen) und ihre Bilder sind auch im Raum. Lucian Freud, der 82 Jahre alt und weltweit geschätzt ist, als er Gayford malt, hatte sich stets intensiv mit der Kunstgeschichte beschäftigt. So gesteht er seinem Modell, dass er nichts von Picassos "Blauer Periode" halte, weil die Bilder "voll von falschem Gefühl" seien. Tizian hingegen habe die richtige Portion Gift, die jedes gute Bild haben müsse. Bei Raffael und Leonardo wiederum stoße ihn die Harmonie ab. Ihm ginge es in seiner Arbeit um etwas anderes: "Ich möchte, dass meine Porträts die Menschen zeigen, statt ihnen zu ähneln. Ich interessiere mich nur für Kunst, die sich mit Wahrheit beschäftigt. Es ist mir völlig egal, ob sie abstrakt ist oder welche Form auch immer sie annimmt."

Wahr und wahrhaftig ist auch dieses Buch. Es ist faszinierend zu lesen, wie Gayford mit der Zeit begreift, dass er sich dem Maler offenbart. Denn Freud entgehen weder die jeweilige Stimmung seines Modells noch die kleinen Tricks, mit denen Gayford versucht, eine Kinnfalte zu verbergen. Selten zuvor wurde der Prozess des Malens und des Gemaltwerdens so tiefgründig und intensiv beschrieben. Dass dem Porträtierten zudem selbst ein herausragendes Porträt gelungen ist, dass er den Maler Lucian Freud tatsächlich so in den Blick bekommen hat wie dieser ihn, macht dieses Buch zu einer Kostbarkeit.

Besprochen von Eva Hepper

Martin Gayford: "Mann mit blauem Schal. Ich saß für Lucian Freud. Ein Tagebuch."
Übersetzt von Heike Reissig, Piet Meyer Verlag 2011
248 Seiten, 64 Abbildungen, 28,40 Euro

Links bei dradio.de:
Porträtist des Fleisches - Zum Tod des britischen Künstlers Lucian Freud
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