Eine Gemeinde im Tagebaugebiet

Die Kirche weicht der Kohle

15:24 Minuten
Hinter einem riesigen Schuttfeld in Manheim ragt der Kirchenturm der Gemeinde auf.
Schutt von abgerissenen Häusern liegt im Dorf Manheim am Rande des Braunkohle Tagebaus Hambach. © Picture Alliance / dpa / Oliver Berg
Von Maria Riederer · 13.10.2019
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Der Ort Manheim gehört zu den letzten im Bistum Köln, der der Braunkohle weichen muss. Die Bewohner müssen sich von ihrem Dorf, aber auch die Gemeinde von ihrer Kirche verabschieden. Das löst viel Unmut aus, birgt aber auch Chancen.
"Wir hatten heute Mittag auch Hüttencafé in Manheim-Neu." Ein ganz normaler Werktag in Manheim-Alt, einem Dorf gleich neben dem umstrittenen Hambacher Forst. Bis vor ein paar Jahren hieß das Dorf einfach Manheim. Heute gibt es aber zwei Dörfer: Manheim-Alt und den in wenigen Kilometern Entfernung entstandenen Umsiedelungsort: Manheim-Neu.
2012 sind die ersten Bewohner aus dem alten Ort in den neuen übergesiedelt, heute leben dort rund 1200 Menschen. Im alten Dorf stehen heute fast alle Häuser leer. Vorübergehend dort untergebrachte Flüchtlinge ziehen gerade wieder fort. Von den alteingesessenen Manheimern wohnt hier nur noch eine Handvoll Menschen, unter ihnen Siegrid Comptesse-Schaub:
"Wir wissen zurzeit nicht, welche Häuser hier wann abgebrochen werden. Sie stehen morgens auf und dann steht in irgendeiner Straße hier der Bagger und dann geht das ruckzuck und innerhalb von ein paar Stunden ist das Haus – Sie wussten vorher, wer drin gewohnt hat – eben einfach nicht mehr vorhanden. Jetzt ist es doch Zeit, dass man tatsächlich mit diesem Ort hier abschließt und umsiedelt."

Plötzlich war der Kirchturm zu sehen

"Für die Stromgewinnung aus Kohle – der Region ehemals ganzer Stolz / werden hier sämtliche örtlichen Dörfer zerstört und der Wald abgeholzt. / Und der Schaufelradbagger hat bald / sich auch noch das letzte bisschen gekrallt…" (Bodo Wartke: "Hambacher Wald")
Siegrid Comptesse-Schaub hat lange gewartet, bis sie die Verhandlungen mit dem Braunkohle-Konzern RWE zum Verkauf ihres Hauses aufnahm. Seit dem Tag vor ein paar Wochen, an dem die Kreissparkasse abgerissen und von der Wohnung aus plötzlich der Kirchturm zu sehen war, ist endgültig klar: Die Familie kann und will nicht länger in Manheim-Alt ausharren.
Ein Schild mit der Aufschrift "Wir sind umgezogen" steht vor einem leerstehenden Haus in Manheim.
Viele Manheimer sind bereits umgezogen.© Picture Alliance / dpa / Oliver Berg
"Wir hatten nie Sicht auf diesen Kirchturm, auf unsere Kirche, das war für mich der Punkt, wo ich gesagt habe: Oh Gott, das ist so eine große Veränderung, und mein Mann, der dann gesagt hat: Sofort die Kamera raus, das müssen wir festhalten, wir können die Kirche ganz sehen. Und das hat mich dann tatsächlich sehr getroffen, dass es in diesem Ort langsam aber sicher zuende geht."

Mehrfach in die Kirche eingebrochen

Die neugotische Kirche Sankt Albanus und Leonhardus ist schon bei der Anfahrt auf das Dorf gut zu sehen. Sie steht leicht erhöht und um sie herum wuchsen bis vor Kurzem Bäume und Blumen. Heute ragt sie aus einem Schotter- und Trümmerhaufen hervor. Die Küsterin, Marie-Luise Bauerett, schließt die Kirchentür auf, die mit unzähligen Schlössern gesichert ist.
"Die sind ja mehrfach hier eingebrochen, aber gestohlen worden ist außer einem Kelch nichts. Es ist ja keiner dabei gesehen worden, nicht? Und Spekulation find ich nicht gut. Dann sind sie auch hier mal über das Dach von der Sakristei da rein. Und dann haben die von der großen Tür die Türdrücker mitgenommen – wir haben gedacht, wie sind die da reingekommen, und dann haben wir erst das gesehen."

Es hängen viele Erinnerungen an der Kirche

Die Einbrüche und Beschädigungen waren ein Grund, warum die Kirche schon im Mai profaniert wurde, obwohl in Manheim-Neu noch nicht einmal mit dem Bau des neuen Gotteshaus begonnen wurde. Bei einer Profanierung wird die Kirche von einem geweihten Raum in ein weltliches Gebäude umgewidmet.
"Oben fehlt ja die Orgel schon, also die Pfeifen fehlen schon, der Altar ist abgedeckt, das ist für mich nicht mehr die Kirche, nein. Nicht mehr heilig", befindet die Küsterin.
Nun ist St. Albanus und Leonhardus nur noch eine halb leere Halle. Bänke, Altäre und Tabernakel, Taufbecken, Figuren und Bilder – alles wird abgebaut und verpackt.
Marie-Luise Bauerett gibt zu: "Das ist mir schon schwer gefallen. Mein eigenes Haus war mir nicht so schwer wie hier. Für mich persönlich war jetzt, als sie den Altar auseinandergenommen haben, das war so: nein. Ich bin hier geboren. Ich bin hier getauft, alles. Bis einschließlich meinen Mann beerdigt. Ich hab also einmal alles durch, auch geheiratet, ja. Und das ist dann leider weg."
Den Abriss der Kirche – der Termin ist noch unbekannt – will sich die Küsterin nicht ansehen: "Nein! Nein. Das werde ich nicht. Das ist für mich unvorstellbar, dass einer da mit dem Bagger reinhaut."

Alte Kirche, neue Bedürfnisse

Marie-Luise Bauerett wird nicht sentimental. Denn der alte Kirchenbau aus dem Jahr 1900, so sagt sie, werde zwar von den Bürgern geliebt und gerne gesehen, aber er passe ohnehin nicht mehr zu den Bedürfnissen einer schrumpfenden Pfarrgemeinde:
"Wenn ich bedenke, dass wir hier Samstagabend – also Samstagabend war ja die Sonntagsmesse – mit 30 Mann gesessen haben. Wer will denn da jetzt sagen: Und ihr reißt mir meine Kirche ab? Die 300, die nicht gekommen sind? Für mich war das so, weil hier nur noch so wenige saßen, ich kam mir überflüssig vor, da habe ich gedacht: Nein, das kann nicht sein."
Verlasse Häuser im Geisterdorf Manheim, über deren Dächern ein Kirchturm aufragt.
Die meisten Häuser im nordrhein-westfälischen Manheim sind bereits verlassen, viele schon abgerissen.© Picture Alliance / R4223
Zwischen Manheim-Alt und dem Umsiedlungsdorf Manheim-Neu liegen knappe acht Kilometer oder zehn Autominuten. Dem vollkommen flachen, neuen Ort fehlt noch das Gesicht. Einzig eine kleine Kapelle aus rotem Backstein wurde Stein für Stein aus dem alten Dorf ins neue gebracht und dort wiederaufgebaut. Die Marienkapelle ist hier der einzige Bau mit Geschichte. Kein alter Hof, kein großer Baum, kein über Jahre gewachsener Garten beruhigt den Blick. An vielen Ecken wird weiterhin gebaut, Bagger und Raupen rattern durch die halb fertigen Straßen.

Manheim-Neu: Blockhütte statt Kirche

In der Mitte des Dorfes liegt eine Wiese, durch die Trockenheit des Sommers braun verfärbt. Hier soll eines Tages die das Gemeindezentrum von Manheim-Neu stehen, in das auch eine Kapelle mit ungefähr 50 Plätzen für Gottesdienste integriert wird. Eine eigene, große Kirche wird es nicht mehr geben.
Der Grundstein ist noch nicht gelegt, stattdessen steht am Rand der Wiese eine Blockhütte, ein kleines Holzhaus mit der Aufschrift "Kirchenhütte". Jede Woche wird in der Kirchenhütte ein Werktagsgottesdienst gefeiert. Siegrid Comptesse-Schaub ist aus dem alten Ort hierher gefahren, um mit ihren früheren und zukünftigen Nachbarn die Messe zu feiern.
"Ich liebe diese Messe. Ich versuche auch nach Möglichkeit, keine Messe zu versäumen, ich finde es einfach toll, es ist ungezwungener, man hat die Möglichkeit, sich untereinander sofort aufgrund des engen Raumes auszutauschen, man erfährt, wer ist krank, wer braucht Hilfe – man hat sofort Kontakt untereinander, was Sie in einem großen Gotteshaus in der Form natürlich nicht finden."

Gemeinde rückt näher zusammen

"Die Füchse haben ihre Höhlen und die Vögel ihre Nester, der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann", sagt Ludger Möers. Möers ist Pfarrer der Kirchen im Seelsorgebereich Kerpen. Um die Lücke zwischen der Profanierung der alten und der Eröffnung der neuen Kirche zu überbrücken, bat er RWE um einen provisorischen Raum für seine Gemeinde:
"Wir brauchen einen Punkt, wo wir uns in Manheim-Neu treffen, egal wie groß der ist. Davon haben wir die RWE überzeugt, dass wir so eine Hütte brauchen, die Hütte als Punkt mitten im Ort ist sehr gut angenommen."
Tatsächlich bleibt beim Gottesdienst kein Stuhl leer, die Besucher verteilen sich nicht, wie in der alten Kirche, in einem riesigen Raum, sondern sitzen eng zusammen und nah am provisorischen Altar. Ein Keyboard ersetzt die Orgel.
"Das hat sich vom ersten Tag an bewährt", sagt der Pfarrer, "und, ja, es war auch meine Idee, das war aber eher ein Spaß, wo ich beim Neujahrsempfang gesagt habe: Und unsere Küsterin, die Frau Bauerett, die wird dann hier bestimmt bald ein Kirchencafé einrichten, und ich habe es als Scherz gemeint – alle anderen meinten, das wäre doch eine gute Idee."

Kaffee und Kuchen auf dem Altar

Die Kirchenhütte ist weit mehr als eine Kapelle. Sie ist Bücherei und Café, sie hat eine winzige Küche und eine Toilette. Einmal im Monat wird direkt nach dem Gottesdienst der Altar zum Kuchen-Büffett umgewidmet und Kaffee gekocht, an anderen Terminen gibt es einfach nur Kaffee und Kuchen.
Die Unterhaltungen drehen sich oft um den alten und den neuen Ort, um den Bau des neuen und den Abriss des alten Hauses, um Trauer, Hoffnung, Vorfreude und Ärger.
"Meine Mutter ist am 4. März 1900 geboren. Und die war die erste, die in der Kirche getauft worden ist."
"Unser Urenkelkind ist das letzte Kindchen, was in der alten Kirche in Manheim getauft worden ist – Ostern. Das sind Erinnerungen, die bleiben."
"Die Kirche selbst ist ja nur quasi das geistige Gebäude, was da stehen, das sind Steine, und die Steine, das wird ja hier wieder neu gebaut, das nützt doch nichts, wenn wir jetzt alten Dingen nachweinen. Das liegt doch nur immer an uns, wie wir das Neue gestalten."

Überstürzter Abbruch von Manheim-Alt?

Nicht alle im Dorf sind bereit, die Neuerungen einfach so hinzunehmen. Unter den Zerstörungen im alten Dorf leiden vor allem die Bewohner, die noch nicht umgezogen sind. Sie beklagen die Eile, mit der die zuständigen Gremien das alte Dorf, die alte Kirche aufgegeben haben. Verständlich vor allem, wenn man weiß, dass einige Mitglieder dieser Gremien eng mit dem Energiekonzern RWE verbunden sind.
Auf dem Schild eines Demonstrierenden in Manheim steht die Aufschrift: "Herr vergib ihnen nicht, denn sie wissen was sie tun."
Demonstration gegen die Profanisierung der Kirche in Manheim.© Picture Alliance / chromorange / Martin Schroeder
"Die könnten ja Manheim noch so lange lassen, bis dass hier was Neues war."
"Aber Annemarie, das ging doch nicht!"
"Aber warum haben sie denn abgebrochen? Die ganze Abbrecherei in Manheim-Alt war eigentlich so nicht vorgesehen – es war für die letzten, die da wohnten, eine Zumutung. Ich wohne noch da, es war also teilweise nicht erträglich. Und alle, die das beschlossen haben, vom Bürgerbeirat und von der Stadt, haben natürlich vergessen, dass es noch Bürger gibt, die da wohnen. Und die eigentlich einen Anspruch darauf haben, auch noch ein vernünftiges Wohnumfeld zu haben. Das ist vergessen worden. Da bin ich sehr böse drüber."

Werde ich es noch erleben?

Dass die alte Kirche profaniert wurde, bevor auch nur der erste Spatenstich für die neue stattgefunden habe – das erhitzt die Gemüter auch:
"Ja, bevor in Manheim alles zu Ende ist, hätte das hier schon stehen können! Das wäre eigentlich der richtige Weg."
"Wir haben ja auch zuerst unser Haus gebaut, und dann sind wir umgezogen, und dann wurde erst abgerissen. Die Kirche macht das andersrum."
"Wir sind nämlich nicht mehr jung und dann könnte es sein, dass man es nicht mehr erlebt."
Ludger Möers meint dazu: "Sobald die Umsiedlung begann, war immer die Frage der älteren und der anderen Leute: Werde ich das noch erleben, dass ich in mein neues Haus ziehe? Und jetzt steht eben an: Werde ich das noch erleben, dass wir die Kirche da bekommen? Ja, sie haben schon ganz viel erlebt, haben ihr eigenes Haus gebaut, die Straßen entstehen langsam in Manheim, eine Kirchenhütte steht da, es gibt wieder Treffpunkte in Manheim, alles ist im Fluss und wir hoffen, so wie es auf dem Schild steht, dass wir eben dieses Jahr mit dem Neubau der Kapelle und des Gemeindezentrums anfangen."

Steine aus der alten Kirche kommen in die neue

Ein Schild hinter der Kirchenhütte zeigt den Entwurf des zukünftigen Baus, ein Komplex aus Beton-Quadern mit Durchbrüchen, damit das Licht hineinkann. Geplant ist ein großes Fenster nach außen auf den zukünftigen Marktplatz, um die Kirchenbesucher mit der übrigen Dorfgemeinschaft zu verbinden.
Einige Fenster und Bänke, das Taufbecken, die Glocken und andere Gegenstände werden von der alten Kirche in das neue Gotteshaus integriert. Die Architekten planen sogar, Steine aus dem alten Bau in das Betongemisch für die neue Kirche zu integrieren.

Hoffen auf baldigen Baubeginn

Isa Liegl und Rosemarie Beier, beide aktive Gemeindemitglieder, betrachten das Schild. Immer wieder dröhnen Baufahrzeuge vorbei und erinnern daran, dass dieses Dorf noch im Entstehen begriffen ist.
"Ich denke, dass hier vorne der Turm hinkommt, der Glockenturm. Da ist dann auch der Eingang vom Pfarrzentrum, eine kleine Bücherei mit Mehrzweckraum, wo dann unser Café weitergeführt wird, eine Kapelle mit 40 bis 50 Plätzen und ein großer Pfarrsaal mit einem Pfarrgarten."
"Wir haben da: Baubeginn 2019. Da hoffen wir drauf, dass das so ist. Sonst müssen wir irgendwie krakeelen. Und Fertigstellung steht da 2021."
"Wir sind ja schon froh und zufrieden, dass man sich hier treffen kann und eine Messe ist. Also, mich zieht es donnerstags hierhin. Ich kann noch laufen, zwar mit dem Rollator, aber ist schön. Manchmal ist es sehr voll, dann müssen Sie noch Stühle beistellen."

Zurück zur Urkirche?

Die meisten Manheimer, so scheint es, haben das alte Dorf und seine Geschichte hinter sich gelassen. Sie haben sich mit der Vertreibung aus ihrer alten Heimat abgefunden und schauen, verbunden durch ihre gemeinsame Geschichte, vor allem nach vorne. Ihre Sehnsucht nach einem richtigen Bau für Gottesdienste und Gemeinde ist groß. Aber das Provisorium – die Kirchenhütte in Manheim Neu – ist ihnen so ans Herz gewachsen, dass manche sich wünschen, sie möge für immer stehenbleiben.
"Ja, das ist echt, wie man sich so Urkirche vorstellt, wo die Anfänge der Kirche waren, da hat man halt Räume privater Natur gehabt und hat sich da versammelt und getroffen und hat Messen gefeiert."
Und Siegrid Comptesse-Schaub meint: "Oh ja, wenn es nach mir geht, bleibt diese Hütte stehen, vielleicht würde sie einfach nur an eine andere Stelle gesetzt werden. Weil: Ich glaube, dass sich das so eingespielt hat, und dass die Menschen, die zu uns kommen, dann eben auch wegen dieser Hütte kommen und auch wegen diesem Charakter, wegen diesem Flair, diesem Charme. Also Ich möchte es schon gern, dass sie bleibt."
Dass Provisorien bisweilen die besten Spielstätten sind, ist nicht nur in Köln bekannt. Trotzdem wird irgendwann hoffentlich der Tag kommen, an dem in Manheim eine neue Kirche steht und im neuen Turm die alten vertrauten Glocken zum Gottesdienst rufen.
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