Eine "gegenläufige Dichterin"

Von Knud Cordsen · 09.12.2005
Die Schriftstellerin Sarah Kirsch ist am Freitag in München mit dem Bayerischen Literaturpreis geehrt worden. Kirsch sei eine "gegenläufige Dichterin", die sich geradezu besessen der Aneignung von Welt durch Sprache verschrieben habe, sagte der bayerische Staatsminister für Wissenschaft und Kunst, Thomas Goppel. Die 1977 aus der DDR in die Bundesrepublik übergesiedelte Autorin konnte den mit 15.000 Euro dotierten Jean-Paul-Preis allerdings krankheitsbedingt nicht persönlich entgegennehmen.
Kirsch: "Ich fühle mich als deutschsprachiger Schriftsteller, das habe ich in der DDR auch schon immer versucht, wo uns einzureden versucht wurde, dass es zwei deutsche Literaturen gibt, und ich habe gesagt, was machen wir dann mit den Österreichern oder mit den Schweizern? Ich bin ein deutschsprachiger Schriftsteller und Vaterländer sind mir egal, ich brauche eine Muttersprache und sonst gar nichts. "

Sarah Kirsch - eine "gegenläufige Dichterin" nannte sie heute bei der Verleihung des Jean-Paul-Preises der bayerische Staatsminister für Wissenschaft, Forschung und Kunst, Thomas Goppel. Eine Lyrikerin, "die sich geradezu besessen der Aneignung von Welt durch Sprache" - ihre Muttersprache – "verschrieben hat". Die heute 70-jährige Sarah Kirsch lebte in der DDR, bevor sie nach dem von ihr unterstützten Protest gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns 1977 in die Bundesrepublik übersiedelte. Und seit über 20 Jahren nun hat sich Sarah Kirsch zurückgezogen in ein Dorf nahe Heide, hoch im Norden, in Schleswig-Holstein, übrigens gar nicht so weit von Günter Kunert, der bei Itzehoe lebt.

Es war kein Zufall, dass ihr erster Gedichtband "Landaufenthalt" hieß, denn die dem literarischen Leben seit langem fernbleibende Dichterin hat sich selbst einmal als "poetische Landschafterin" bezeichnet – "ich grase das hier ab wie ein Schaf", sagt sie, "fresse das, bis alles gefressen ist". Und so beschreibt sie in ihrer leisen Poesie Weiden, Schafe, Vögel, das Meer, Marsch und Geest und die Bäume in immer neuen Wendungen, die auch neue Sichtweisen auf die uns umgebende Natur eröffnen. Sie baut in ihren Büchern seit jeher eine Beziehung zu Landschaften und deren Bewohnern auf, so auch in ihrem Gedichtzyklus Wiepersdorf 1976, in dem sie in lebendigen Dialog mit toten Dichtern tritt, wie Bettine und Achim von Arnim, die mit ihren Kindern im 19. Jahrhundert dort auf Schloss Wiepersdorf gelebt haben. Nach dem Mauerfall 1989 erinnerte sich Sarah Kirsch an ihre Zeit in der Mark Brandenburg und war skeptisch, solche Sehnsuchtsorte schnell wieder aufsuchen zu können.

Kirsch: "Ich habe eine tiefe Beziehung zu den Gegenden, aus denen ich komme und auch zu dem Land und der Gegend um Wiepersdorf herum zum Beispiel, so dass es mir im Moment noch sehr schwer fällt, dort hinzugehen. Aber ich glaube, dass sich alles mischt und in zehn Jahren ist das normaler, und dann ist der Zerfall gestoppt oder es gibt sehr schöne Städte wieder."

Märchenhaft-magische Momente erzeugt die Dichtung Sarah Kirschs bisweilen, und schon in den Titeln ihrer Bücher mag sich andeuten, worum diese Lyrik kreist: "Schwanenliebe", "Schneewärme", "Spreu" und "Schwingrasen" – letzterer dürfte wirklich nur Fachleuten ein Begriff sein, bezeichnet "Schwingrasen" doch die Pflanzendecke, die sich vom Rand verlandender Seen aus bildet und stark verfilzt, moosig auf dem Wasser schwimmt. Schwingrasen, kein Wunder, dass dieser der studierten Biologin, die auch eine Forstarbeiterlehre machte, vertraut ist. Auf Feld, Wald und Wiese kennt sich Sarah Kirsch aus und schreibt gerade alles andere als Feld-, Wald und Wiesen-Dichtung, sondern fein gearbeitete, grazile Verse. Auch über jenen Landstrich, in dem ihr nun der Jean-Paul-Preis in Abwesenheit verliehen wurde: Bayern. In der Nähe von München, an den Ufern des Starnberger Sees, schrieb Sarah Kirsch einmal folgendes Gedicht, das sie "Obolus" nannte:

Kirsch: "Obolus / den letzten Groschen soll Charon bekommen / wenn es nur schnell geht / Tauchen durch Wasserbirken / schaukelnde Tannen / die mit den Wurzeln nach oben wachsen / von Renken begleitet / König Ludwig ertrunken / ein Märchen zur Belebung des Fremdenverkehrs / Triton mit den bergblauen Augen / unter dem Wasserspiegel lässt er die Hand mir nicht los / meine in seiner, die Schwimmhäute hat / das ungeteilte Herz / eine Kammer / über uns / Wasser / der bayerische Himmel."