Eine Frau trauert

04.06.2012
In Ulla Lenzes kurzem Roman ringt eine junge Frau mit dem plötzlichen Verlust des Vaters. Mit seiner sparsamen Handlung gleicht das Buch einem Kammerspiel, das durch die Verdichtung dem großen Thema Tod gerecht wird.
Mag sein, dass die deutsche Gesellschaft den Tod tabuisiert – die Autoren tun es nicht. Bücher über den Tod mehren sich. In Ulla Lenzes kurzem Roman "Der kleine Rest des Todes" ringt Ariane mit dem plötzlichen Verlust des Vaters. Die 33-jährige Frau ist nach einem halben Jahr in einem Zen-Kloster gerade erst zurückgekehrt nach Köln, da stürzt der Vater, ein begeisterter Hobbyflieger, ab. Das "Papakind" Ariane verliert mit dem eher ängstlichen, träumerischen Finanzbeamten eine verwandte Seele. Mit dem Vater droht sie auch sich selbst zu verlieren und sucht Halt in ihrer Umgebung. Wie ein Kind schreit sie in ihrer Trauer nach Aufmerksamkeit und wehrt sich gegen eine verantwortungsvolle Haltung.

So sehen es, mehr oder weniger, die anderen und halten es Ariane vor oder wenden sich gleich ab. Sie erhoffen eine Änderung ihres Verhaltens, indem sie Ariane hart mit ihren Ansprüchen auf Normalität konfrontieren – oder diese Normalität schützend von ihr fernhalten wie bisher auch. Welche Perspektive tatsächlich zutrifft, lässt Ulla Lenze mit erzählerischem Geschick in der Schwebe. Der Tod ist ein Schock für alle um Ariane: Er reißt den Schleier der Routine von den Beziehungen. Mit großer Deutlichkeit treten ihre Strukturen hervor.

Die bei dieser Konstellation drohenden Klippen Überhöhung und Pathos unterläuft Ulla Lenze, Jahrgang 1973, in ihrem dritten Roman. Das Buch gleicht einem Kammerspiel, die Figuren haben fest umrissene Funktionen: Beatrice, die Schulfreundin, die Ariane mit 12 Jahren wegen anderer Mädchen verließ, taucht auf und lässt die Trauernde noch einmal sitzen. Svenja, die ältere Schwester, hält wie immer alle Fäden in der Hand. Die Mutter ist nicht recht ansprechbar, sie hält die bekannte Fassade aufrecht. Von Arndt, dem ehemaligen Freund, wird Ariane telefonisch getröstet, bis eines Nachts eine andere Frau an seiner Seite liegt. Und Leander, für den Ariane eine bequeme Zweitfrau ist, stößt sie von sich, als sie ihm zu anstrengend wird. Die Trauernde wäscht sich nicht mehr, Tag und Nacht werden eins. Sie verwahrlost wie ihre Wohnung, in der alles auf dem Boden liegen bleibt und der Strom abgestellt wird.

Am Ende wird Ariane den Spieß umzudrehen versuchen: Sie verlässt Beatrice, die sie zweimal verlassen hat, ruft die Schwester herbei und bricht mit ihr auf nach Holland, wo das Flugzeug ihres Vaters zerschellte. Dort endet das Buch abrupt und mit einer irritierenden Beobachtung.

Ähnlich sparsam wie die Handlung ist die Sprache. Ironie und Sarkasmus ("Die Wirklichkeit war noch nie subtil.") wechseln mit elegischen und lyrischen Passagen, Ruppiges mit Sanftem. Die geschärfte Wahrnehmung der Trauernden ("Die Teeblätter wachsen im Wasser") stößt sich wund an der Wirklichkeit und wechselt dann mit Apathie und Stumpfheit. Bedeutsame Sätze verbergen sich unter vielen beiläufigen und umgehen die großen Worte: "Jemand geht und ein anderer kommt und das ist die Kindheit." "Der kleine Rest des Todes" wird der Größe des Themas gerecht durch Verdichtung. Eine mühelose, aber lange nachhallende Lektüre.

Besprochen von Jörg Plath

Ulla Lenze: Der kleine Rest des Todes
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2012
156 Seiten, 18,90 Euro
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