Eine Familiengeschichte

Rezensiert von Gabriele von Arnim · 30.06.2006
Ein junges Mädchen erzählt eine Familiengeschichte, eine Schwesterngeschichte, eine Geschichte voller Konkurrenz, Liebessucht, Einsamkeit und Lebensleere. Ohne dass Empfindungen je klar wären oder gar ausgesprochen würden - aber der Leser spürt sie, wird angefüllt mit der hilflos gierigen Gefühlssuche der Figuren und der Ahnung eines unaufhaltsam sich nähernden Unglücks.
Rabea Edel gelingt ein rasanter Einstieg in ihren Roman. Auf zweieinhalb Seiten entsteht die Ahnung eines verlorenen Glücks und eines gegenwärtigen Unheils. Zwei Übriggebliebene sitzen auf der Terrasse eines Hauses, in dem wohl einst eine Familie wohnte. Man ahnt eine Katastrophe, Zerfall, Tod.

Dabei beginnt alles ganz harmlos. Eine bürgerliche Familie in einem Haus mit Garten und Nachbarn, die die Hecke ordentlich stutzen. Vater, Mutter, zwei Kinder. Keine schrägen Existenzen, die mit dem Leben experimentieren. Die Fassade ist in Ordnung. Das Innenleben ein Schrecken.

Eine Mutter, die depressiv wird nach der Geburt der zweiten Tochter, am Fenster steht und hinausschaut, wo es nichts zu sehen gibt und sich schließlich wahllos Männer ins Bett holt - als ließe ein leeres Herz sich füllen mit Mengensex.

Ein darbender Vater, der sich sehnt nach seiner Frau, ein schwacher Mensch, eine Randfigur, freundlich aber nichtssagend - auch im buchstäblichen Sinne.

Eine große Schwester, die Ich- Erzählerin, die alles sieht und es fast und gleichzeitig gar nicht versteht. Die beinahe erwachsen wird, bevor sie groß genug ist dafür. Die ihre kleine Schwester liebt, mit deren Geburt das Unglück begann und ihr die Schuld gibt an der Familien-Agonie.
Lina, drei Jahre jünger als die Ich-Erzählerin, geht es nicht gut daheim. Sie wächst schnell heran und in ihr wächst die Verzweiflung. Die sich tarnt. Im Gewande der Provokation daherkommt und der tückischen Manipulation. Nachdem die Vakuummutter mit der Sexsucht entschwunden ist - mit einem Koffer und einem Wintermantel- wird Lina endgültig zum vernachlässigten, eigensinnigen, untröstlichen Kind, für das sich die Ich-Erzählerin verantwortlich fühlt. Und sich ihm ausliefert. Die Kleine hat zerstörerische Kräfte. Ist "gierig nach dem Hässlichen." Verlangt absurde Mutproben –und besteht sie selber. Fordert von früh an den Tod heraus. Liegt bäuchlings auf dem gefrorenen See herum, lässt eine Katze brutal aus dem ersten Stock fallen, überquert eine belebte Strasse bei Rot und stellt sich mitten in den brausenden Verkehr. Sie braucht die Extreme, braucht Reize, ja Überreizungen; sucht Grenzen, um sie zu überschreiten –als könne sie sich nur fühlen im Eis, in der Gefahr, im Schmerz.

Als die große Schwester Gregor kennen lernt, wird es heikel. Gregor ist ein cooler Typ, der scheinbar existentielle Fragen stellt -"welche Erfahrungen willst du noch einmal machen?" – einer, der aus Gleichgültigkeit mit Menschen spielt, sich Kindheitstraumata anhängt oder sie hatte. Die beiden beginnen eine Beziehung, die wenig mit Sex und schon gar nichts mit Erotik zu tun hat. Aber es könnte eine Nähe entstehen zwischen ihnen. Wenn Lina nicht wäre. Die der Schwester den Freund ausspannt. Sie muss ihn haben, weil er ihr die Schwester nimmt. Und er greift zu. Mit Lina kann er tun, was er will. "Ich würde alles machen. Weil es mir egal ist", sagt Lina.

Komplizierte Beziehungen. Meisterhaft gezeichnet in ihrer Flüchtigkeit, ihrer Unbestimmtheit und Trostlosigkeit. Immer wieder muss man sich hineinlesen, heranlesen an die Figuren, die fast hermetisch bleiben, wie eingeschlossen im vagen Gefühlsgeflecht. Vieles bleibt rätselhaft, ungeklärt. Der Klabautermann etwa. Der Mann mit dem Muttermal. Ist er Mensch oder Albtraum? Bringt er Lina um oder hat sie sich selber ertränkt?

Eine so erschreckende wie herzzerreißende Lektüre. Rabea Edel ist 24 Jahre alt. Eine frühe Könnerin. Die mit lichtem Verstand unklare Gefühle klar beschreibt. Wenn sie –was zu vermuten ist- in diesem Roman das Lebensgefühl einer Generation aufzeigt, kann einem angst und bange werden um die jungen Menschen, die das Glück der Sehnsucht und der Hoffnung nicht zu kennen scheinen. Kein lebendiges Verlangen, keine Zärtlichkeit nirgends und kein Gelächter. Brachiale Distanzlosigkeit statt Nähe, freudlos dümpelnde Gnadenlosigkeit. Und bestürzende Einsamkeit. Ob man nun das Leben will oder den Tod – eigentlich ist selbst das egal.


Rabea Edel:
Das Wasser, in dem wir schlafen,

Luchterhand,
160 S., 16,95 Euro.