Eine Familie in Nordsyrien

Überfordert, aber nicht besiegt!

23:10 Minuten
Portrait: Mutter, Vater, Tochter, Sohn und Oma auf dem Sofa
Der Alltag der kurdischen Familie Hemo aus Dêrik im Nordosten Syriens ist ein Improvisieren entlang schwierigster Umstände. © Deutschlandradio / Ekrem Heydo
Von Ekrem Heydo · 23.04.2019
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Familie Hemo lebt in Dêrik – im Nordosten Syriens, den die Kurden Kurdistan nennen. Ein de facto unabhängiger, aber nicht anerkannter Staat. Wie lebt es sich in dieser umkämpften Region? Ein seltener Einblick in den Alltag einer kurdischen Familie.
Sieben Uhr morgens, Frühstück bei Familie Hemo: Feremez und seine Frau Hediye hocken im Schneidersitz auf dem Teppich, vor ihnen steht ein Teller mit gebratenen Eiern, Oliven und Joghurt. Zwei ihrer drei Kinder gehen noch zur Schule, der Älteste studiert in Deutschland Bauingenieurwesen. Die Eltern hatten Angst, dass ihr Sohn sonst vom syrischen Militär rekrutiert wird, und schickten ihn fort.
Ein kleines Mosaiksteinchen in einem Meer von Entscheidungen, die die Familie Hemo täglich treffen muss – und die deutlich machen, dass sich diese Region im Norden Syriens, in dem die knapp 40.000-Einwohner-Stadt Dêrik liegt, im Bürgerkrieg befindet. Eine Region, die sich gesellschaftlich rasant verändert. Und die im Kampf gegen den radikalen Islam viele Opfer bringen musste. Wie schafft man unter solchen Bedingungen Normalität? Ehefrau Hediye, Mitte 40, trägt ihr Kopftuch locker, sie lächelt gern.

"Es ist wichtig, den Tag gemeinsam zu starten"

"Ich bin Mutter, Hausfrau und Lehrerin, ich arbeite an einer Grundschule. Das alles zusammen ist anstrengend und manchmal auch schwierig, aber es ist okay. Uns ist es wichtig, den Tag gemeinsam zu starten, mit unserem Frühstück, und ihn abends zu beenden, denn ich sehe meinen Mann erst wieder abends."
Der 51-jährige Feremez ist seit einem Jahr Bürgermeister der Stadt Dêrik. Davor hat er als gelernter Elektroingenieur für das Elektrizitätswerk der Stadt gearbeitet.
Zusammen verlassen sie das Haus. Feremez bringt seine Tochter Aya zur Grundschule, bevor er ins Rathaus fährt. Die Schule liegt in einem der christlichen Viertel von Dêrik. Hier leben viele Religionen und Nationen seit Jahrhunderten Tür an Tür: Kurden, Araber, Christen und Jesiden.
Es regnet – so stark hat es hier seit den achtziger Jahren nicht mehr geregnet. Viele Straßen sind überflutet. Die Häuser sind einfach gebaut, aus rohen Zementblöcken, mit Flachdächern und Terrassen, oft noch im Rohbau.
Stadtansicht mit Häusern im Rohbau
Dêrik in Nordsyrien: manche Häuser sind zerstört, viele aber seit Jahren im Rohbau. © Ekrem Heydo
Die Stadt Dêrik wurde bis zum Ausbruch des Bürgerkrieges vor acht Jahren vom Assad-Regime regiert. Dann wurde die syrische Hauptstadt Damaskus von oppositionellen und radikalen Kämpfern angegriffen – und das Assad-Regime zog Armeeangehörige und Verwaltungsangestellte zu deren Schutz von hier ab. Assad wollte seine Streitkräfte nicht aufteilen und keine neue Front gegen die ebenfalls rebellierende Kurden eröffnen. Die Einwohner waren von heute auf morgen auf sich gestellt.

Einwohner waren von heute auf morgen auf sich gestellt

Und danach kam die Terrormiliz IS – bis vor zwei Jahren war Dêrik von ihren Kämpfern bedroht, erzählt Feremez. Die Stadt wurde aber nicht zerstört. Zum Glück gab es keine Kampfhandlungen. Deshalb sind auch viele Menschen aus ganz Syrien hierher geflohen. Für viele Kurden war das ein günstiger Moment, um eine autonome Verwaltung zu etablieren.
"Als sich das Assad-Regime aus dieser Region zurückgezogen hat, herrschte zunächst Chaos. Es lag dann an uns, das System neu zu gestalten. Als erstes haben wir versucht, die wichtigsten Dinge zu organisieren. Zum Beispiel die Müllabfuhr: unsere Stadt muss ja sauber bleiben! Denn Dêrik ist in kürzester Zeit stark gewachsen. Seit etwa drei bis vier Jahren existiert jetzt unsere neue kommunale Verwaltung."
Feremez Hemo betritt das Rathaus, begrüßt den Wachmann. Hier arbeiten Kurden, Araber und Christen zusammen. Seine Aufgaben sind wie die eines jeden Bürgermeisters einer Mittelstadt: von Müllabfuhr über Kanalarbeiten bis hin zum Wohnungsbau für die neu ankommenden Flüchtlinge. Aber in einer Stadt wie Dêrik im nördlichen Syrien mutieren selbst diese Aufgaben zu einer Herausforderung.
"Wir befinden uns in einer Kriegssituation, wir müssen viel tun für unsere Bevölkerung, aber die Situation ist so neu und schwierig. Es fehlt uns an technischer Ausstattung, an schweren Geräten und vor allem an Arbeitskräften."
Auch das ist eine Aufgabe von Feremez Hemo: die Rathausspitze zu leiten, die einmal am Tag zusammenkommt, um die Beschwerden der Bürger und die Projekte der Stadt zu besprechen.
In der kurdischen Selbstverwaltung werden alle wichtigen Ämter Geschlechter-paritätisch besetzt: Immer mit einem Mann und einer Frau. Manche Frauen tragen ein Kopftuch, andere ihre blond gefärbten Haare offen. Früher wurden alle Posten von der syrischen Regierungspartei "Baath" vergeben, jetzt wird die Kommunalverwaltung alle zwei Jahre neu gewählt.
"Unser System der Doppelbesetzung von allen wichtigen Ämtern ist ja im Grunde eine gute Sache. Aber wenn es richtig Stress gibt, dann funktioniert es hier nicht immer reibungslos."

Die Schulen sind schlecht ausgestattet

Etwa zur gleichen Zeit in einem Dorf nahe Dêrik unterrichtet seine Frau Hediye zehn Erstklässler, Jungen und Mädchen gemeinsam. Weil es nur eine kleine Ölheizung gibt, tragen die Kinder Jacke und Mütze. An der Wand hängen bunte Kinderbilder, verdecken, dass die Farbe von der Wand abblättert. Die Möbel sind alt.
"Für die Erstklässler wollten wir gerne alles neu machen, weil sie noch so klein sind in dieser besonderen Situation. Unsere Schulbänke und Tische sind viel zu groß für sie, sie müssen im Stehen schreiben. Wir haben natürlich neue Möbel beantragt, und wir hoffen, dass wir sie bald bekommen."
Mädchen an der Tafel übt kurdisches Alphabet
Übung macht den Meister - Kurdisch wird an den Schulen in Dêrik erst seit sechs Jahren unterrichtet.© Deutschlandradio / Ekrem Heydo
Zu Beginn des Bürgerkriegs vor acht Jahren waren die meisten Lehrer noch bei der Zentralregierung in Damaskus angestellt. Das änderte sich, nachdem die kurdische Verwaltung das Schulsystem übernahm und reformierte. Seit 2013 kommen die Lehrkräfte fast ausschließlich aus den nordöstlichen Gebieten Syriens. Fächer wie Religion oder ‘Arabischer Nationalismus‘ wurden abgeschafft, stattdessen wurde das Fach ‘Kultur und Moral‘ eingeführt. Gegenseitige Akzeptanz, unabhängig von Religion und Nationalität, spielt im neuen Lehrplan eine große Rolle. Alles das war neu und musste erst angenommen werden, erinnert sich Hediye Hemo.
"Als wir vor sechs Jahren zum Beispiel die kurdische Sprache in den Schulen als Unterrichtssprache einführten, waren die Leute erst dagegen. Wir hatten ja auch keine ausgebildeten Lehrer dafür. Aber wir haben in den vergangenen Jahren sehr viele Fortschritte gemacht, und mittlerweile kommen die Kinder damit gut zurecht. Es ist normal – und auch die Eltern haben es so akzeptiert."

Frauen unterrichten und leiten die Schulen

In den Schulen hier unterrichten fast nur Frauen. Das liegt zu einem – wie überall auf der Welt – an der guten Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Aber es liegt auch daran, dass viele Männer im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat verwundet wurden oder gefallen sind. Neu jedoch ist, dass jetzt überwiegend Frauen die Schulen leiten – so wie Perihan Mustafa, Direktorin der Schule, an der Tochter Aya Hemo ist.
"Unsere Schule ist kurdisch, es gibt aber auch arabische Schulen. Dort haben die Schüler drei Stunden Kurdischunterricht, wir geben drei Stunden Arabischunterricht. Wir finden es wichtig, dass zuerst die Muttersprache gelehrt wird, danach kommen die Sprachen der anderen Bevölkerungsgruppen, und ab der fünften Klasse kommt noch eine Fremdsprache wie Englisch dazu. Wir haben viele neue Dinge eingeführt, auch die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler hat sich grundsätzlich verändert."
Während sie früher eher von Strenge und Gehorsam geprägt war, sei sie heute freundschaftlich und auf Augenhöhe. Eigentlich könnte – zumindest was die Schule betrifft – alles gut sein, wäre da nicht die fehlende Anerkennung des Schul- und Ausbildungssystems außerhalb. Die Schüler der älteren Klassen legen daher weiterhin das syrische Zentralabitur ab.
Frauen mit und ohne Kopftuch sitzen im Kreis auf Stühlen.
Dass jetzt überwiegend Frauen die Schulen leiten, ist neu.© Ekrem Heydo
Feremez Hemo ist auf dem Weg zum Friedhof der Märtyrer, hört im Autoradio über Baghuz, die letzte, inzwischen befreite Hochburg der Terrormiliz IS.
Auf dem Friedhof liegt sein Bruder begraben, erzählt er. Der Weg führt an einem jesidischen Flüchtlingscamp "Newroz" vorbei: Hier leben Familien, die vor dem IS geflohen sind, in provisorischen Zelten. In der Ferne sieht man die schneebedeckten Gipfel des Taurus-Gebirges, ein atemberaubender Anblick. Plötzlich taucht ein Checkpoint auf. Die zahlreichen Kontrollen an wechselnden, strategischen Punkten sollen Anschläge verhindern.
Die Polizistin ist verärgert, weil wir nicht anhalten wollten. Sie heißt Sinem und gehört zur sogenannten ‚Asayish’, einer Art Regionalschutzwache. Sie trägt eine militärische Uniform.
"Ich bin seit vier Jahren bei den Asayish und sorge für die Sicherheit von Dêrik. Bei den Checkpoints ist immer eine Frau dabei. Die Patrouillen überwachen die Straße Tag und Nacht. Am Anfang, als dieses neue System aufgebaut wurde, gab es Probleme. Die Bevölkerung hat es nicht akzeptiert. Sie haben uns auch als Frauen nicht akzeptiert. Wir mussten durchhalten. Inzwischen ist es normal geworden. Jetzt sagen die Leute sogar: Es ist eine Revolution der Frauen."

"Wir haben den Krieg so satt"

Der Friedhof der Märtyrer ist neu, er wurde 2013 angelegt. Hier liegen rund 800 junge Frauen und Männer begraben. Die Grabplatten sind aus Marmor und reihen sich wie Dominosteine in langen Reihen aneinander. Auf allen Grabsteinen sind Fotos der jungen Menschen befestigt – etwas, was in der Region sonst unüblich ist. Überall sieht man auch Symbole der kurdischen Volksschutzeinheiten YPG und YPJ. Hier liegen arabische, kurdische, jesidische und christliche Kämpfer und Anschlagsopfer nebeneinander begraben.
Ein Mann schreitet über einen riesigen Friedhof.
Feremez Hemo besucht den Friedhof der Märtyrer, wo sein Brduer begraben liegt.© Ekrem Heydo
"Mein Bruder hieß Ahmed Hemo. Die 20 Männer und Frauen, die hier nebeneinander liegen, sind alle 2017 bei einem Luftangriff des türkischen Militärs ums Leben gekommen. Die hatten das Medienzentrum der YPG auf dem Berg Qerecox am Rande von Dêrik beschossen. Ahmed hat dort gearbeitet. Wir haben den Krieg so satt. Wir haben viel gelitten, viele sind geflüchtet. Jedes Haus, jede Familie ist betroffen, egal ob Kurde oder Araber. Wir wollen, dass der Krieg endlich ein Ende hat. Krieg ist für alle schlecht, am Ende muss man sich sowieso an einen Tisch setzen und Frieden schließen."
Inzwischen scheint der sogenannte Islamische Staat zurückgedrängt, ihre letzte Bastion ist mit Baghuz gefallen. Und doch bleibt der IS weiterhin eine Bedrohung, es gibt Schläfer und kleinere Terrorzellen, um Anschläge zu verüben. Auch der Umgang mit ihren Gefangenen ist für die Kurden ein großes Problem, sagt Bürgermeister Feremez Hemo.
"Der IS ist wie ein Krebsgeschwür mit Ausläufern in die ganze Welt, aber das Zentrum ist hier in Syrien. Wir haben gegen die Terroristen des IS gekämpft, nicht nur für uns, sondern für die ganze Welt. Wir haben einen hohen Preis gezahlt, viele junge Menschen sind dabei ums Leben gekommen!"
Das Kurdengebiet im Nordosten Syriens ist de facto im Moment unabhängig, aber kein anerkannter Staat – das macht auch den Umgang mit den gefangenen IS-Kämpfern so schwierig. Die Kurden sind damit überfordert – und die Welt schaut weg, so zumindest empfinden es Leute wie Dêriks Bürgermeister Feremez. Die Gefängnisse sind überlastet, ein ordentliches Verfahren ist juristisch schwierig. Und die ausländischen Kämpfer werden von ihren Heimatstaaten bis jetzt nicht zurückgenommen.

Sicherheitsbeamten an jeder Straßenecke

Das Justizministerium der kurdischen Selbstverwaltung liegt im Zentrum von Qamishli, der offiziellen Hauptstadt. Überall in der Stadt begleitet einen der Lärm der dieselbetriebenen Stromgeneratoren. Die Straßen der Umgebung sind teilweise gesperrt, an jeder Straßenecke stehen Sicherheitsbeamte. Man sieht zerstörte Gebäude, sie wurden durch einen mit Sprengstoff beladenen LKW 2016 zerstört. 55 Menschen starben damals. Rasha Abbas, Vize-Direktorin und zuständig für die Unterbringung der syrischen und internationalen IS-Gefangenen, ist eine resolute Frau.
Portrait einer in Schwarz gekleideten Frau mit Kopftuch
Die Vize-Direktorin Rasha Abbas, selbst Muslima, verurteilt den Terror des IS scharf.© Deutschlandradio / Ekrem Heydo
"Wir haben vier Gefängnisse für die IS-Gefangenen. Eines davon ist für Kinder und Jugendliche, es ist eine Art Kinderzentrum und heißt HURI. Dort werden die Kinder betreut und unterrichtet. Sie sind zwischen 6 bis ungefähr 16 Jahre alt. Ab 17 gelten dann andere Regeln. Die kleineren Kinder sind bei ihren Müttern. Das Frauengefängnis ist in Dêrik. Wenn die syrischen Gefangenen ihre Strafe abgesessen haben, werden sie entlassen. Bei den ausländischen Gefangenen machen wir das über die Botschaften. Die Höchststrafe liegt hier bei 20 Jahren, die Todesstrafe haben wir abgeschafft."
Die Unterbringung und Verurteilung der eintausend ausländischen IS-Kämpfer übersteigt die Möglichkeiten der kurdischen Behörden. Über den Vorschlag, die internationalen Kämpfer vor einen internationalen Strafgerichtshof zu stellen, möchte die Weltgemeinschaft offenbar noch nicht diskutieren. Rasha Abbas, selbst Muslima, verurteilt den Terror des IS scharf. Was sie aber immer wieder lobend erwähnt, ist ihre Arbeit und die damit verbundene Geschlossenheit mit den Kollegen, die sowohl Jesiden, Araber als auch Christen sind. Ihre Vorurteile gegenüber Jesiden zum Beispiel seien dadurch komplett verschwunden.
"Durch diese Freunde hat sich meine Sichtweise komplett verändert. Die Selbstverwaltung hat es geschafft, alle Bevölkerungsgruppen zusammen zu bringen und uns ein Gefühl der Verbundenheit zu geben."
Gleichgültig, wen man in dem kurdisch geprägten Nordosten Syriens fragt, alle scheinen – trotz der oft unüberwindlichen Probleme – froh zu sein, selbstbestimmt leben zu können – in dieser "Demokratischen Föderation Nordsyrien", die 2016 von kurdischen, syrisch-orthodoxen, arabischen und turkmenischen Delegierten ausgerufen, aber bisher von niemandem anerkannt wurde.

"Die Türkei führt einen Wasserkrieg gegen uns"

Feremez Hemo ist in Rimêlan, 25 Kilometer von Dêrik entfernt. Dort sitzt die Behörde für Energie und Stromversorgung. Immer wieder bricht das Netz zusammen. So wie gestern Abend. Der Leiter der Abteilung für die Stromversorgung, Ziyad Rustim, ist ein enger Freund von ihm.
"Durch den Krieg ist das ganze, früher zusammenhängende Stromnetz in Syrien zusammengebrochen. Der Strom wird jetzt hauptsächlich von großen Gasgeneratoren erzeugt, die ihre Laufzeit schon um das Dreifache überschritten haben. Im Winter ist es am schlimmsten. Viele Leute heizen mit Strom, und die Kapazitäten sind begrenzt. Ein Teil des Stromes wird auch über Staudämme gewonnen. Aber die funktionieren nur unregelmäßig. Die Türkei führt einen Wasserkrieg gegen uns, mal lässt sie zu viel und mal zu wenig Wasser durch. Natürlich betrifft das auch unsere Landwirtschaft, weil die Bewässerungssysteme Strom brauchen."
Auch die Kanalisation ist in dem Zusammenhang ein Problem. Weil es in letzter Zeit soviel geregnet hat, ist auch das Abwassersystem zusammengebrochen – und die Gullydeckel wurden soeben weggeschwemmt, wie Feremez erfährt. Er bricht den Besuch bei seinem Freund Ziyad ab, fährt schnellstens zurück nach Dêrik – und kann nur ein paar tröstende Worte murmeln: Drei Kanalarbeiter versuchen, die verstopften Rohre mühsam mit Eisenstangen frei zu bekommen. Einer der Arbeiter klettert in die Kanalisation, die Männer sehen müde aus.
"Oft müssen wir wegen des Kanalisationsproblems die Nacht durcharbeiten, es ist ein Ausnahmezustand. Ich habe immer die Gummistiefel dabei. Wir packen alle mit an."
Diesmal aber bleibt Feremez nicht bis zum Schluss, er hatte versprochen, seine Tochter Aya abzuholen. Morgen sei auch noch ein Tag, sagt er. Nun fängt also sein Feierabend an – es ist sechs Uhr abends.

Eltern schicken ihre Töchter zum Sport – das ist neu

Stolz schaut der Vater seiner Tochter beim Training zu. Aya hat Taekwondo für sich entdeckt, übt mehrmals wöchentlich. In Dêrik hat Taekwondo Tradition, viele syrische Meister stammen von hier – nur waren es früher ausschließlich Jungen und Männer, erzählt Sportlehrer Semir Sherif.
"Es gibt Leute, die sind konservativ, engstirnig, sie denken, dass Mädchen und Taekwondo nicht zusammenpassen. Aber in unserer Gesellschaft hat sich etwas verändert, die Eltern schicken ihre Töchter zum Sport! Damit sie stark werden und sich selbst verteidigen können. Die Mädchen mögen das, sie haben Spaß und gewinnen so Selbstvertrauen."
Taekwondo-Kurs mit Mädchen, die trainieren
Taekwondo hat in Dêrik Tradition. Doch Mädchen dürfen es erst seit Kurzem trainieren.© Ekrem Heydo
Während Vater und Tochter noch beim Taekwondo-Training sind, bereitet Hediye Hemo das Abendessen vor. Nur wenn beide arbeiten, kommen sie über die Runden, sagt sie, sonst würde das Geld nicht reichen. Lebensmittel sind teuer. Dabei verdienen sie zusammen nur ungefähr 200 Euro im Monat – und gehören damit doch schon zu den Besserverdienenden. Aber es ist und bleibt ein Improvisieren entlang schwierigster Umstände.
"Gott sei Dank gehört uns das Haus, so dass wir keine Miete zahlen müssen, und Feremez hatte zum Glück auch etwas Erspartes. Trotz des syrischen und türkischen Embargos haben wir zumindest das Nötigste: wir haben Wasser und Brot, nur Strom ist ein Problem. Ich spreche mich mit Feremez ab, was den Haushalt betrifft. Wenn ich nicht da wäre, könnte er seine Arbeit so auch nicht machen. Und die Kinder helfen mit."
Feremez und Aya sind inzwischen zuhause angekommen, das Essen steht auf dem Tisch. Die Familie hockt im Schneidersitz drumherum. Die Großmutter – Mutter von Feremez – versucht, ihren ältesten Enkel Can, der in Bielefeld lebt, über WhatsApp zu kontaktieren.
Sie vermissen einander, versuchen, in der Ausnahmesituation Normalität zu leben – es ist nicht einfach. Can im fernen Deutschland sehnt sich nach seiner Familie. Er ist nach Bielefeld gegangen, um Bauingenieurwesen zu studieren – und um nicht zum Militärdienst von Assads Regime zu müssen. Doch der Alltag in der Fremde ist schwer. Die Zerrissenheit macht ihm zu schaffen. Er will so schnell wie möglich noch seinen Master machen und dann zurück nach Dêrik. Um beim Aufbau seiner Stadt mitzuhelfen.
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