Eine durch und durch korrupte Gesellschaft

Petra Häring-Kuan und Yu-Chien Kuan im Gespräch mit Susanne Führer · 17.06.2011
Während im Westen sich die Kritik an China vor allem an fehlenden Menschenrechten entzündet, ist für die Chinesen selber das Hauptproblem die grassierende Korruption, sagen Petra Häring-Kuan und Yu-Chien Kuan, Autoren des Buches "Pulverfass China".
Susanne Führer: Yu-Chien Kuan hat seine Heimat China in den 60er-Jahren während der Kulturrevolution verlassen. Er hat in Hamburg studiert und promoviert und an der Universität Sinologie gelehrt. Yu-Chien Kuan und seine Frau, die Autorin und Dolmetscherin Petra Häring-Kuan, haben nun ein Buch vorgelegt, in dem sie die Sicht der Chinesen auf die radikalenVeränderungen in ihrem Land wiedergeben. Das Ehepaar hat dafür zahlreiche Interviews in China geführt mit jung und alt, arm und reich. Ich habe mit den Beiden vor der Sendung gesprochen und sie gefragt, wie es denn um die Freiheit der Menschen in China bestellt ist.

Petra Häring-Kuan: Also, was verstehen wir unter Freiheit? Wenn wir jetzt von politischer Freiheit sprechen, dann ist da doch schon noch ein Mangel zu sehen. Man darf eben nicht die Führung der Kommunistischen Partei in Frage stellen, das ist die Freiheit, die nicht gewährt wird.

Aber jede andere Form von Freiheit, die wird gewährt, und da hat man eigentlich – so empfinden es viele Chinesen – dass man eigentlich dort mehr Freiheit hat als hier zum Beispiel. Bei uns ist ja alles mit Gesetzen geregelt, und drüben ist man gar nicht so schnell nachgekommen, entsprechende Gesetze zu schaffen, und deswegen: In wirtschaftlicher oder in privater Hinsicht hat man einfach sehr viel Freiheit.

Yu-Chien Kuan: Ja, ganz genau. Zum Beispiel beim Verkehr: Autofahrer, die sind manchmal verrückt! Die können wirklich so fahren wie sie wollen! Und zum Beispiel Steuerzahlung auch. In China gibt es noch nicht so viele Gesetze über Steuern. Viele Leute, die bezahlen gar keine Steuer!

Führer: Das klingt ja alles ein bisschen mehr nach Anarchie, ich meinte schon auch noch in so einem Sinne, dass natürlich die Chinesen, die wie Sie, Herr Kuan, noch die Kulturrevolution erlebt haben, sich geradezu im Paradies fühlen müssen. Also, das Maß an persönlicher Freiheit ist ja sehr groß, man muss nicht mehr ständig Angst haben, dass man morgen im Gefängnis oder in der Verbannung landet.

Kuan: Na ja, wissen Sie, China ist so groß – 1,4 Milliarden Menschen –, darum tun so viele Leute, was sie wollen, was das zentrale Parteiorgan nicht kontrollieren kann. Das ist manchmal sehr chaotisch in China. Aber die andere Seite merkt man schon an der Entwicklung Chinas. Die geht langsam zur Disziplin, zu Gesetzen, aber das dauert.

Häring-Kuan: Aber die Freiheit ganz konkret hat sich natürlich verbessert, indem man zum Beispiel – was früher nicht möglich war – man kann den Wohnort selber wählen, man kann seinen Arbeitsplatz selber wählen, man kann heiraten, wen man will; das waren ja alles Sachen, wo man die Genehmigung von der Partei oder von der Regierung brauchte.

Führer: Und man darf mit seinem Ehepartner zusammenleben!

Häring-Kuan: Man darf mit ihm zusammenleben, man wird nicht …

Führer: Was man früher nicht durfte, was ich erfahren habe durch ihr Buch.

Häring-Kuan: Ja, ja! Also, wenn der eine in den Norden geschickt wurde, dann musste er eben in den Norden gehen, und der andere saß im Süden und hat da gearbeitet. Oder Reisefreiheit, wer ins Ausland fahren will und ein Visum bekommt, einen Pass bekommt, der kann dann auch fahren!

Das sind schon Möglichkeiten. Oder wenn man im Ausland studieren will – es gibt ja jetzt zigtausende, die im Ausland studieren –, das sind alles Sachen, die man eigentlich nicht unterschätzen darf, und die Leute, die eben die alte Zeit kennen, die wissen die heutige Freiheit sehr wohl zu schätzen.

Führer: In der westlichen Medienwelt ist ja das Thema Menschenrechte eines der Top-Themen, wenn es um China geht – mal abgesehen jetzt von den wirtschaftlichen Erfolgen – was hatten Sie für einen Eindruck, wie stark beschäftigen die Menschenrechte ihre Gesprächspartner?

Häring-Kuan: Das war eigentlich mit ein Grund, warum wir dieses Buch überhaupt geschrieben haben. Weil hier fokussiert man ja die ganze Problematik auf drei Themen: Einmal Mangel an Menschenrechten, Pressefreiheit und Demokratie. Und wir finden eigentlich, dass das nicht die herausragenden Themen sind, die in China die Leute beschäftigen, sondern das sind Themen wie Korruption, Unsicherheit, was die Zukunft betrifft, die wachsende Kluft zwischen arm und reich, die Willkür der Behörden oder irgendwelcher lokaler Beamter oder zu hohe Immobilienpreise oder ein hohes Schulgeld – früher war Schulbildung kostenlos – und so. Also, das sind eher die Themen – wie komme ich durchs Leben, wie sieht die Zukunft aus –, die die Menschen bewegen.

Führer: Und die Menschenrechte nicht?

Häring-Kuan: Doch! Natürlich! Das auch! Aber es ist eben nicht nur das!

Kuan: Wissen Sie, Menschenrecht, das ist meistens von Europa bestellt. Und China hat ein kaiserliches System, schon seit 2.600 Jahren. Dieses kaiserliche System hat so stark China beeinflusst, man kann nicht innerhalb von 20, 30 Jahren Entwicklung so eine Demokratie wie Europa haben.

China ist ein unterentwickeltes Land – bis jetzt immer noch! Man muss das wirklich auch wissen. Wir dürfen, ehrlich gesagt, nicht immer China belehren, dass China so gemacht werden soll, wie wir sagen. Selbst wenn es in europäischen Ländern und Amerika gar kein Menschenrechtsverletzungsproblem gibt, habe ich manchmal diese Menschenrechtsidee schon sehr satt, die die Leute immer vorgeschlagen haben. Sogar ich! Ich lebe hier in Deutschland, ich habe das Wort sogar satt!

Führer: Petra Häring-Kuan und Yu-Chien Kuan sind zu Gast in Deutschlandradio Kultur, wir sprechen über ihr Buch "Pulverfass China", für das sie rund 200 Chinesen verschiedener Berufe und verschiedener Alters- und sozialen Schichten befragt haben. Sie zitieren darin auch eine repräsentativere Umfrage, und danach ist es vor allen Dingen die Korruption – Sie haben das vorhin auch genannt, Frau Häring-Kuan –, die die Chinesen am meisten beschäftigt. Wie macht sich das denn im chinesischen Alltag bemerkbar?

Häring-Kuan: Ja, das betrifft ja alle Menschen, und es ist teilweise sehr schwer dieser Korruption auch zu entgehen, denn wenn zum Beispiel in den Behörden … wenn einer dort nicht mitmachen will, dann sind seine Kollegen sauer. Also, jeder muss dann schon irgendwie mitmachen, zum Beispiel wenn jemand in eine Privatschule reingehen möchte, ein Vater möchte seinen Sohn in eine Privatschule bringen und das Zeugnis ist aber zu schlecht, dann wird der Vater versuchen, rauszukriegen: Nimmt dieser Direktor jetzt Geld oder was kann ich ihm Gutes tun, damit er meinen Sohn aufnimmt?

Und schenkt ihm vielleicht ein Bild, wenn er ein Kunstsammler ist. Das sind alles Fälle, die wir auch beschreiben und die wir selber erlebt haben. Korruption fängt vielleicht auch schon ganz einfach an, wenn ein Handwerker ins Haus kommt, dann gibt man ihm auch erstmal etwas Geld, damit er gut gelaunt ist und seine Arbeit gut leistet. Es betrifft eigentlich alle Bereiche.

Führer: Ich hatte ja auch da den Eindruck bei dem Punkt Korruption: Ihre Gesprächspartner sind ja in vielen Punkten durchaus verschiedener Ansicht, dass da doch relativ große Einigkeit herrscht, dass das wirklich eine Plage ist für China.

Häring-Kuan: Auf jeden Fall! Man liest ja auch immer wieder in China, dass wieder selbst Minister entlassen werden, weil sie einfach unglaublich korrupt sind und Gelder ins Ausland gebracht haben. Man versucht die Korruption zu stoppen, aber sie ist eigentlich schon so tief in der Gesellschaft, das ist schwierig.

Kuan: Es hängt auch von der Beamtenschaft ab. Zum Beispiel das Amtssystem in China ist furchtbar! Aber jetzt kommt ein großes Echo aus der Bevölkerung, die nicht zufrieden sind. Darum besteht zurzeit in China auch eine Gefahr. Wohin geht China?

Führer: Wohin geht China? Ja, das ist eine gute Frage. Sie machen ja, wie gesagt, in diesem Buch wirklich sehr schön deutlich, welche enorme Entwicklung dieses Riesenland in den letzten 30 Jahren genommen hat – die persönlichen Freiheiten haben wir schon angesprochen, aber auch, wenn wir mal die wirtschaftliche Entwicklung ansehen –, vor 30 Jahren gab es ja noch Bezugsmarken, nicht nur für Lebensmittel – also für Getreide oder für Fleisch, sondern sogar für Dinge wie Seife oder Streichhölzer.

Heute kann sich manch einer mehrere Wohnungen kaufen. Aber wohin geht China? Sie haben Ihr Buch "Pulverfass China" genannt, und Herr Kuan, Sie haben im Vorwort geschrieben: "Immer mehr Chinesen erkennen trotz aller wirtschaftlichen Erfolge, dass das Land krank ist." Warum ist das Land krank?

Kuan: Zum Beispiel Korruption ist eine Krankheit. Die Reichen haben wirklich viel zu sagen, und die Armen können überhaupt nichts tun – das ist auch eine Krankheit. Und zum Beispiel Ungerechtigkeit ist auch eine Krankheit. Und zum Beispiel eine Partei steht allem vor, und die anderen können überhaupt nicht reagieren. Das ist auch eine Krankheit.

Führer: Was meinen Sie, wie schwer ist denn die Krankheit, unter der China leidet?

Häring-Kuan: Da ist man sehr unterschiedlich in den Einschätzungen. Es gibt durchaus Menschen, die – vor allen Dingen im Internet, auch sehr bekannte Menschen, die sich da geäußert haben, im chinesischen Internet – und die gesagt haben: Unser Land ist wirklich todkrank. Aber es gibt andere, die sagen: Ja, es ist krank, aber es ist heilbar, weil das Land in Bewegung ist.

Und das ist eigentlich auch unsere Meinung, weil die chinesische Gesellschaft ist in Bewegung und erkennt eben auch die Probleme und hat gut ausgebildete Leute. Und warum sollen diese Leute plötzlich alle erstarren? Ich glaube, Chinesen sind sehr problembewusst und gehen Probleme auch an.

Und wenn es brenzlig wird, dann versuchen sie, die Sachen zu lösen. Und dieser Titel jetzt – "Pulverfass China" – ist eben auch so gewählt, weil wir sagen, es gibt sehr viel Pulver in diesem Land, aber wenn man dieses Pulver langsam beseitigt, dann kann man es entschärfen, wenn man die Probleme löst, dann geht es eben nicht hoch.

Kuan: Und erstaunlicherweise hatten viele Leute aus China mich gebeten, das Buch in China zu veröffentlichen. Normalerweise ist das, was wir da in dem Buch geschrieben haben, wirklich sehr scharf, und es in China zu veröffentlichen, ist fast unmöglich. Aber jetzt dürfen wir das Buch in China veröffentlichen. Das ist sehr interessant!

Führer: Petra Häring-Kuan und Yu-Chien Kuan waren das. Ihr Buch "Pulverfass China" ist soeben im Scherz-Verlag erschienen und erscheint demnächst in China. Ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch!

Häring-Kuan: Vielen Dank!

Kuan: Danke auch!
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