Eine chinesische Flöte als Lebensretter

Von Elske Brault · 17.09.2010
Mehrmals bereits war der chinesische Schriftsteller Liao Yiwu nach Deutschland eingeladen: Zur Frankfurter Buchmesse oder zur Lit Cologne. Heute Abend hatte er seinen ersten öffentlichen Auftritt beim Harbour Front Literaturfestival.
Mit seinem kahlen Kopf, in einer einfachen beigen Leinenjacke mit den typischen chinesischen Knebelknöpfen wirkt Liao Yiwu wie ein Mönch. Und er singt auch so: Die Klangschale, mit der er sich begleitet, verwenden sonst tibetische Buddhisten.

Die Lesung beginnt Liao Yiwu mit einem Lied: Über einen zu Unrecht Verurteilten, der sich im Kerker an seine Mutter erinnert. Er ist eben nicht nur Schriftsteller, sondern auch Musiker. Nachdem er während seiner Gefängnishaft bereits zweimal versucht hatte, sich umzubringen, erzählt er, habe der Klang einer Tsiao, einer chinesischen Flöte ihn gerettet. Liao erzählt diese Geschichte sehr ausführlich und mit jedem Detail: Während der Regen auf das Glasdach des Museumsinnenhofes prasselt, in dem die Zuhörer dicht gedrängt sitzen, schildert er den Schnee, der damals in seinen kleinen Gefängnisinnenhof fiel. Wie kalt es war, als er die Flöte zum ersten Mal hörte. Ein uralter Mönch spielte sie mit blau gefrorenen Fingern und geschlossenen Augen, bis ihm die Tränen übers Gesicht liefen.

"Sein tränennasses Gesicht, darin öffneten sich plötzlich seine Augen, und er sah: mich. Wir blickten uns an – lange. Dann fragte er: Willst du es lernen? Ich nickte."

Die Zeit im Gefängnis hat Liao Yiwu von Grund auf verändert. Sie hat aus dem Dichter – für ein Gedicht wurde er eingekerkert – den Dokumentaristen gemacht, der in seinem Buch "Fräulein Hallo und der Bauernkaiser" Gespräche mit einfachen Menschen wiedergibt: Dem Telefonfräulein, dem Leichenbestatter, aber auch einem Menschenhändler.

Über 300 Gespräche hat Liao mittlerweile geführt. Moderator Hans-Jürgen Fink fragt, wie daraus die Texte entstehen. Aber Liao antwortet nicht mit Ausführungen über seine Schreibverfahren. Die Techniken des Verstandes spielen für ihn scheinbar keine Rolle. Er erzählt von den Wandlungen seines Herzens, seines Blicks. Immerhin offenbart er später etwas von seinen Rechercheverfahren: Den Leichenbestatter konnte er nur zum Reden bringen, indem er mit ihm Schnaps trank. Und der Mann erwies sich als fürchterlich trinkfest.

"Wir tranken in einem fort. Ein Glas nach dem anderen. Solange – ich saß auf einem Hocker – dass ich hinten überfiel. Plumps! Da lag ich nun auf dem Boden, er saß noch am Tisch. Er glaubte, ich sei so sturzbetrunken sei, dass ich keinen Ton mehr hörte. Aber das stimmte nicht. Meine Ohren hörten gut, was er sagte."

Hier offenbart sich der ganze Liao Yiwu: Er stellt sich unter seine Gesprächspartner, es macht ihm nichts aus, im Dreck zu kriechen. Aber dies ist zugleich eine List: Er bleibt wachsam und empfängt die Informationen im Rausch, der für ihn zugleich das Zwischenreich der Poesie markiert. Und er bleibt hartnäckig und trinkt sieben Mal mit dem Leichenbestatter, bis er dessen Geschichte beisammenhat. Während Schauspielerin Laura de Weck sie vorlas, stieß Liao Yiwu immer wieder mit seiner Übersetzerin Martina Hasse an, um pantomimisch zu verdeutlichen wie sehr er sich für diese Erzählung einsetzen musste. Wie stets bei diesem Schriftsteller protokolliert sie aus der Perspektive des kleinen Mannes ein Stück Geschichte: wie die Chinesen während der Hungersnot zu Beginn der sechziger Jahre zu Kannibalen wurden.

"Nicht etwa, weil Menschenfleisch gut schmeckt. Sondern, weil sie sich den Bauch mit Zuckerfladen vollgestopft hatten. Daraufhin ist ihnen der Unterleib geschwollen, und sie konnten nicht mehr aufs Klo gehen. Sie brauchten das Menschenfleisch, um den Darm gleitfähig zu machen."

Wie seltsam muss es für Liao sein, sich erstmals außerhalb Chinas zu bewegen. Schade, dass Moderator Hans-Jürgen Fink ihn nicht nach seinen Eindrücken von Deutschland fragte. Doch womöglich ist die Stippvisite für den hartnäckigen, langsamen Mönch bisher zu kurz, um darauf eine Antwort zu geben. Manche Zuhörer hielten nicht bis zum Schluss durch. Doch die Mehrheit klatschte umso begeisterter, und geduldig signierte Liao am Ende ihre Bücher.