Eine Art "Readers Digest" für Lyrikfans

13.05.2010
Nicholson Baker hat seine Fans (und seine Rezensenten) auf keine geringe Belastungsprobe gestellt in den vergangenen Jahren: Dieser Meister des inneren Monologs über die spirituellen Dimensionen der kleinen Alltagserlebnisse provozierte 2004 mit dem Roman "Checkpoint", in dem sich zwei Freunde über den Plan unterhalten, den amerikanischen Präsidenten George W. Bush zu ermorden.
Die eher rührende als bedrohliche Fantasie über den Tyrannenmord enttäuschte die Kritiker: Über der politischen Geste sei die Poesie vertrocknet. Auch das dokumentarische Großwerk "Human Smoke" – "Menschenrauch", das aus Abertausenden, öffentlich zugänglichen Quellen die These belegen will, dass der Zweite Weltkrieg auch durch alliierte Kriegstreiberei befeuert wurde, ist bei der Kritik durchgefallen.

Nun scheint sich der Autor auf ein genuin literarisches Sujet zu besinnen: Ein mittelmäßig erfolgreicher US-amerikanischer Dichter bei der Schaffenskrise. Paul Chowder soll eine Einleitung für eine Gedichtanthologie schreiben, was ihm, gelinde gesagt, schwerfällt. Außerdem hat ihn seine Lebensgefährtin Rosslyn verlassen, und über dem Versuch, in einem inneren Monolog sein Wissen über Poesie zu kommunizieren, gewinnt er sein Selbstbewusstsein zurück – und wirbt schließlich wieder um seine Liebste, gewinnt sie am Ende wohlmöglich zurück.

Der locker skizzierte Rahmen ermöglicht eine 250-seitige Reflexion auf die Poesie, vor allem auf die angelsächsische. Es wird über "schöne Stellen", "geniale Zeilen" und über den Zivilisationsbruch des freien Reims nachgedacht. Dabei gewinnt der Leser eine gewisse Sympathie für den hemdsärmeligen Poeten, der über sein Handwerk redet, als ginge es ums Fischen. Den Leser mit poetischen Diskursen über die ganze Spanne des Romans bestens zu unterhalten – das ist schon eine beachtliche literarische Leistung.

Eigentlich erst nach der Lektüre, nicht schon währenddessen, wird dem Leser jedoch klar, dass die fiktive Poetik dieses sympathischen minor poet die Dichtung auf dem schönen Klang und das kühne Bild reduziert, alles, was darüber hinausgeht, die komplette Inhaltsseite, wird einfach weggelassen. Natürlich will Nicholson Baker auch für die Disziplin und die Tradition der Dichtung Reklame machen – das ist löblich. Aber diese Reduktion einer ganzen Dimension menschlicher künstlerischer Intelligenz auf die gelungene Zeile, letztlich die fetzige Wendung, das ist im Endeffekt schon schwer zu ertragen. Im Grunde handelt es sich um ein "Readers Digest" für Lyrikfans.

Natürlich gelingen Baker wieder viele sowohl ironische wie rührende Details, etwa das Mitleid des Schriftstellers mit der Maschine Computer: "Der Computer konnte nicht denken, nicht sprechen, er war ein Gefangener seiner eingefrorenen Erinnerungen, ein Wesen im Limbus." Leider überwiegt doch ein im Grunde ehrenwerter, aber ästhetisch schwer klischeebelasteter, volkspädagogischer Duktus, der die Dichtung als struggle for life, als darwinistischen Wettbewerb um die schönste Formulierung beschreibt. Das ist der Dichtung zu wenig und leider auch letztlich dem Roman zu viel an poetischer Hemdsärmeligkeit.

Besprochen von Marius Meller

Nicholson Baker: Der Anthologist
Roman
C. H. Beck, München 2010
256 Seiten, 19,95 Euro