"Eine Art Enzyklopädie der Kindheit"

Andreas Nohl im Gespräch mit Jürgen König · 05.03.2010
Vor allem Erwachsene können aus den Tom-Sawyer-Romanen lernen, meint der Übersetzer Andreas Nohl, der die Manuskripte erneut ins Deutsche übertragen hat. Sie könnten "an diesen Büchern ihre eigenen Fehler leicht überprüfen", so Nohl.
Jürgen König: Wir befinden uns in der Mitte des 19. Jahrhunderts, Tom Sawyer lebt bei seiner Tante Polly in einer Kleinstadt am Mississippi. Eltern hat er nicht mehr, die Tante ist streng, zu ihrem Unglück hat Tom Sawyer aber nur Unsinn im Kopf. Und damit nicht genug: Er hat auch noch einen Freund, Huckleberry Finn, der wohnt am Rand der Stadt in einer Tonne, kennt alle möglichen und unmöglichen Geheimnisse, träumt von großen Erlebnissen, am liebsten würde er Seeräuber werden oder Schatzgräber. Andreas Nohl hat jetzt beide Tom-Sawyer-Romane von Mark Twain neu übersetzt. Auf Grundlage dieser Übersetzung hat Alexander Schumacher ein Hörspiel inszeniert, "Tom Sawyer und Huckleberry Finn", das hören Sie jetzt Sonntag in unserem Programm. Hier ein Ausschnitt:

((Ausschnitt aus Hörspiel))

Ein Ausschnitt aus unserem Hörspiel "Tom Sawyer und Huckleberry Finn" nach Mark Twain. Der starb am 21. April 1910, vor 100 Jahren also, und hat mit seinen beiden Romanen über Tom Sawyer und Huckleberry Finn Klassiker der Jugendliteratur geschrieben. Auch in Deutschland waren sie bald in jedem Haus zu finden, zuletzt meistens in einer Übersetzung von Lore Krüger aus dem Jahr 1954. Es hat in den 80er-Jahren modernere Übertragungen gegeben, richtig durchgesetzt haben die sich aber nie. Nun hat Andreas Nohl für den Hanser-Verlag beide Tom-Sawyer-Romane neu übersetzt. Herr Nohl, ich grüße Sie!

Andreas Nohl: Guten Tag!

König: Als die Idee aufkam, die Tom-Sawyer-Romane neu zu übersetzen, war das für sie gleich plausibel, also zu sagen, ja, das muss man machen, das ist überfällig?

Nohl: Nein, das war durchaus ein komplexer Entscheidungsprozess. Sie haben ja schon angesprochen, dass es sehr viele Übersetzungen gibt oder gab, und mir schien es zunächst – wie soll ich sagen – nicht geradezu naheliegend, das alles noch mal zu übersetzen. Aber dann haben wir oder ich habe mir dann, als der Verlag beharrlich diese Idee verfolgte, weiterhin verfolgte, mir einfach die vorhandenen Übersetzungen angeschaut, auch die neueren und natürlich auch die von Lore Krüger sowie auch andere, und habe dann zwei Probeübersetzungen gemacht zu zwei Szenen aus "Huckleberry Finn", und das war dann so evident viel näher an Mark Twains Intentionen und auch so evident besser lesbar offensichtlich, dass der Verlag sich sofort entschieden hatte, das zu machen.

König: Mark Twain beschrieb in seinen Tom-Sawyer-Romanen ja eine Umgebung, die er selber als Jugendlicher kennengelernt hatte, war ein genauer Beobachter, war berühmt für seine Bissigkeit, wenn er also den alltäglichen Rassismus Amerikas beschrieb, die Polizeiübergriffe auf Minderheiten, überhaupt Heuchelei, Verlogenheit. Es heißt immer, Mark Twain habe so bissig geschrieben, dass Jugendbuchausgaben, auch von "Tom Sawyer" und "Huckleberry Finn" immer wieder entschärft wurden. War das zum Beispiel bei der Übersetzung von Lore Krüger aus dem Jahre 1954 der Fall?

Nohl: Nein, das würde ich nicht sagen. Sie haben recht, es gab schon bei Erscheinen von "Huckleberry Finn" eine berühmte, die Hartford Library, die das Buch also sofort aus ihren Beständen entfernt hat, als es angeschafft worden war, das hatte natürlich damit zu tun, dass hier ein Paar ja der Held ist und eine Sprache im Munde führt, die, wie soll ich sagen, nicht jugendfrei war. Das zeichnet ja diese Romane sowieso aus, dass sie nicht jugendfrei sind, sie sind polemisch gerichtet gegen diese moralisierende Jugend- und Kinderbuchliteratur des 19. Jahrhunderts. Pädagogisch sind sie aber doch, aber ich würde sagen, pädagogisch für Erwachsene. Erwachsene können eigentlich an diesen Büchern ihre eigenen Fehler leicht überprüfen.

König: Die Jugendsprache, die wir da finden, ist ja aber die von 1876. Wie überträgt man die in ein Deutsch von 2010?

Nohl: Ich glaube, dass der Veränderungsprozess einer Sprache und auch der (…) (Anm. d. Redaktion: Schwer verständlich im Hörprotokoll) Sprache ist doch ein sehr langsamer und mühsamer, wenn Sie so wollen. Mir kam es darauf an, eine Sprache zu wählen – also jetzt in den Dialogen –, die für den heutigen Leser sich plausibel und überzeugend, das heißt glaubwürdig liest, die zugleich den leichten Slang oder den starken Slangeindruck, den es bei Twain hat, im Deutschen so reproduziert, dass ich nicht in die falsche Falle sozusagen tappe und hier etwa Dialekt verwende oder aber eben einen Kunstslang produziere, sondern ich habe mich bemüht, die Hochsprache etwas abzuschleifen, ein sogenanntes Missing zu schreiben, das ich je nach Person etwas stärker oder etwas weniger abschleife. Zudem habe ich mich bemüht, jeder Person eben eine eigene Ausdrucksweise zu geben, die sie als Sprecher charakterisiert.

König: Auch dem, wie es im Buch heißt, im Original, dem Nigger Jim?

Nohl: Ja, vor allem dem Nigger Jim, der ist ja doch, wie soll ich sagen, die heimliche Hauptfigur des zweiten Romans. Über ihn transportiert sich ja das gesamte moralische und auch erzählerische Geschehen. Es gibt in der Weltliteratur kaum eine Figur, die so liebenswert, liebenswürdig ist wie Nigger Jim. Natürlich ist das auch mit einer gewissen Problematik verbunden, das will ich gerne einräumen, aber diese Person im Deutschen zum Leben zu erwecken, mit einer eigenen Sprache, war in der Tat eine sehr schöne Aufgabe.

König: Kommen wir mal auf die Wirkung Mark Twains. Ich kann mir vorstellen, in Deutschland in den 50er-Jahren kam der wie gerufen, dieses Lausbubenhafte, wie man damals sagte, seine Helden, die den Gartenzaun streichen, die ganze Geschichte überhaupt war weit weg, 1876 geschrieben, neun Jahre nach Kriegsende war das angenehm und passte doch zur Mentalität dieses Wir-sind-wieder-Wer, wir bauen uns unser Häuschen, wir streichen unsere Zäune und wir ertragen es, dass unsere Kinder die Freiheit lieben, solange sie nicht unser ganzes System infrage stellen. Jetzt, ein halbes Jahrhundert weiter, passen Tom und Huckleberry Finn noch ins Jahr 2010?

Nohl: Lassen Sie mich zunächst vielleicht sagen, dass Twain lange Jahrzehnte der amerikanische Lieblingsautor der Deutschen war. Er wurde dann eigentlich erst von Ernest Hemingway, der sein unmittelbarer literarischer Schüler war, abgelöst. Hier hat sich also einfach etwas fortgesetzt, sozusagen bruchlos war Twain immer ein sehr beliebter Schriftsteller. Es gab auch noch eine Übersetzung, die während des Dritten Reichs gemacht wurde, die auch heute noch im Handel ist, die auch gar nicht jetzt wirklich brutal schlecht ist oder etwa nationalsozialistische Ideologien transportiert, aber die andere große Schwächen hat, ohne Frage.

Lore Krüger hatte als Jüdin ja Deutschland unter den Nazis verlassen müssen, ihre Eltern sind im Übrigen umgekommen, und sie hat eine ganze Weile im Exil in den USA gelebt. Dort hat sie das Handwerkszeug oder beziehungsweise die Sprache kennengelernt, und ihre Kompetenz hat ihr dann ermöglicht, eine relativ sehr gute, für die damalige Zeit überragende Übersetzung zu machen von beiden Romanen. Aber natürlich hat sich diese Übersetzung nun doch ein wenig überholt. Dann aber fehlten der Lore Krüger natürlich gewisse wissenschaftliche Kenntnisse und Mittel, die mir natürlich schon zur Verfügung standen. Es liegen ja immerhin fast 50 Jahre dazwischen.

Ob Tom Sawyer und Huckleberry Finn heute noch eine Rolle sozusagen spielen können - ich bin davon überzeugt, dass es so ist. Das liegt einfach daran, dass diese Bücher aufgrund ihrer höchsteigenen literarischen Struktur einfach Weltliteratur sind und sich nicht überlebt haben. Mit großer Freude wird, glaube ich, auch heute noch ein Jugendlicher und im Übrigen auch ein Erwachsener diese Bücher lesen können und mit großem Gewinn.

König: Aber was genau findet ein erwachsener Leser heute jenseits des Abenteuerlichen im "Tom Sawyer"?

Nohl: "Tom Sawyer" unterscheidet sich von den normalen Jugendbüchern fundamental. Das liegt daran, dass er erstens eine Art Enzyklopädie der Kindheit geschrieben hat, das heißt, wir finden hier 40 bis 50 archetypische Situationen der Kindheit und Jugend. Es ist in diesem Roman, der einen Sommer beschreibt, im Grunde genommen eine puber … , sagen wir mal eine Entwicklung von einem 6- bis 14-Jährigen hineingepackt. Diese ungeheuerliche Verdichtung dieses Entwicklungszeitraums – Kindheit, ich nenne das Spätkindheit und Jugend – macht diesen Roman so außerordentlich geladen und so spannend.

Dann kommt hinzu, dass Twain alle literarischen Genres seiner Zeit in diesen Roman hineingepackt hat. Sie haben hier eine Liebesgeschichte, Sie haben eine Kriminalgeschichte, Sie haben eine Gruselgeschichte, Sie haben eine Robinsonade, Sie haben in der Tat auch eine Lausbubengeschichte, aber das ist, wie gesagt, ein Aspekt von vielleicht fünfen. Und diese Mischung erfüllt dieses Buch doch mit einer gewissen explosiven Kraft.

König: Ein Klassiker ist also neu zu lesen. "Tom Sawyer und Huckleberry Finn", von Andreas Nohl für den Hanser-Verlag übertragen. Seine Übersetzung können Sie bei uns erleben in einem Hörspiel von Alexander Schuhmacher nach Mark Twain, jetzt Sonntag, 18:30 Uhr, eine fünfteilige Serie, "Die Abenteuer von Huckleberry Finn" dann, jeweils eine knappe Stunde lang, können Sie ab nächsten Mittwoch bei uns hören, jeweils 21:33 Uhr. Herr Nohl, ich danke Ihnen!
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