Eine arabische Charlotte Roche?

05.03.2009
Ein Plädoyer für die Auslebung der weiblichen Lust hat die in Frankreich lebende und aus Syrien stammende Autorin und Journalistin Salwa Al Neimis mit "Der Honigkuss" geschrieben. Es ist weniger ein Roman als eine intelligente Mischung aus Essay und Erzählung - und auf jedem Fall provokant.
"Honigkuss" von Salwa Al Neimi passt in eine Zeit, in der tatsächliche oder vermeintliche erotische Bekenntnisse aus weiblicher Feder die Bestsellerlisten stürmen. Das Buch der Ende der Fünfzigerjahre in Damaskus geborenen, seit längerem in Frankreich lebenden syrischen Journalistin und Autorin ist jedoch weder autobiografisch noch pornografisch. Sensationell ist es dennoch.

Die namenlose Erzählerin arbeitet als Bibliothekarin, erst in Damaskus, dann in Paris, und liest heimlich die klassischen arabischen Erotika. Auch wenn diese heute oft vergessen oder auf dem arabischen Buchmarkt nicht greifbar sind, es gibt sie in Hülle und Fülle, und zwar spätestens seit dem neunten Jahrhundert. Die Lust, und nicht zuletzt die weibliche Sexualität, werden im klassischen - anders als im fundamentalistischen - Islam als Gottesgeschenk begriffen, als Vorgeschmack auf die Freuden des Paradieses.

Die Entdeckung dieser Bücher und die Begegnung mit einem Mann, den sie den "Denker" nennt - und der sich später als mehrere entpuppt -, setzt einen Prozess der sexuellen Selbstbefreiung in Gang. Nicht nur lebt sie jetzt ihre Sexualität bewusst und ohne falsche Rücksichten aus, sondern sie findet, angeregt durch die Lektüre der klassischen Erotika, auch eine Sprache dafür.

Zum einen werden nun die sexuellen Abenteuer der Erzählerin und ihrer Freundinnen erzählt. Zum anderen wird, fast nach Art eines Essays, für die Wiederbelebung oder Wiedergewinnung einer Sprache für die Sexualität plädiert, wie es sie einst in der arabischen Welt gab, aber die in Vergessenheit geraten ist:

"Der Scheich al-Sujuti schrieb im 13. Jahrhundert ein Buch über die Kunst der Liebe eigens für die Frauen. Wenn die Leserinnen es heute läsen, würden sie kein Wort davon verstehen. Ebenso gut könnte man einem Neandertaler ein Informatikbuch in die Hand drücken. (…). Wie kann man von sexueller Bildung sprechen, wenn die Menschen nicht einmal die einfachsten Grundlagen der Anatomie kennen?"

Im Grunde ist dieses Buch ein Plädoyer dafür, mit diesem Zustand ein Ende zu machen, um so die Grundlage für eine sexuelle Befreiung von Mann und Frau zu schaffen. Zugleich ist es ein postmodernes Vexierspiel mit dieser alten erotischen Literatur, wenn etwa die Kapitelüberschriften fast wie Zitate daraus wirken: "Übers Lernen und Lehren", "Über Listen und Finten". Dann aber wird dieses Schema ironisch gebrochen, wenn ein Kapitel "Sex and the Arabic City" heißt.

Salwa Al Neimis Botschaft ist nicht nur für die arabische Welt aktuell. Würde eine Feministin dieses Plädoyer für die Lust lesen, so sagt die Erzählerin an einer Stelle, würde "sie mich als Sklavin der männlichen Ideologie bezeichnen und mir den Krieg erklären".

Nicht nur die Anhänger klassischer Familien- und Beziehungskonzepte in der arabischen Welt werden mit Salwa Al Neimis Plädoyer für die Promiskuität ihre Schwierigkeiten haben. Ein überraschendes, ein provokantes Buch also, eine intelligente Mischung aus Essay und Erzählung - aber, aufgepasst, kein Roman, wie es der Untertitel verspricht.

Rezensiert von Stefan Weidner

Salwa Al Neimi: Der Honigkuss. Roman
Aus dem Arabischen von Doris Kilias
Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2008
126 Seiten, 14,95 Euro