Eindrücke aus der untergehenden DDR

04.01.2013
Der "Mutter Vater Roman" des DDR-Autors Reinhard Jirgl ist eine historische Ausgrabung: Die Geschichte über die Hölle der bürgerlichen Kleinfamilie ging in den Wirren der Wende fast völlig unter. Dabei ist es ein besonderes Werk - mit unverkennbar eigenem Schreibstil.
Reinhard Jirgl lebte in den 80er-Jahren als "13. Beleuchter" bei der Ostberliner Volksbühne und schrieb zwölf Jahre lang fast unbemerkt Prosa. 1989 hatten sich sechs dickleibige Manuskripte angesammelt und kurz vor Toresschluss, in der von Gerhard Wolf herausgegebenen Reihe "außer der reihe" im Aufbau-Verlag 1990, erschien eines davon tatsächlich noch in der DDR: der "Mutter Vater Roman". Er ging in den Wirren der Wende fast völlig unter, die wenigen nicht eingestampften Restexemplare werden heute im Antiquariat zu Höchstpreisen gehandelt. Es ist also fast schon etwas wie eine historische Ausgrabung, wenn dieses Debüt des mittlerweile äußerst profilierten Gegenwartsautors Jirgl jetzt noch einmal neu herausgegeben wird.

Jirgl hat sich inhaltlich und vor allem formal nie um die Sujets eines sozialistischen Realismus gekümmert, um die Literatur der Arbeitswelt. Seine Hölle ist die der bürgerlichen Kleinfamilie, die gerade auch in der DDR beherrschend war. Der Titel "Mutter Vater Roman" zielt auf eine Thematik, die alle gesellschaftlichen Prozesse in den engsten zwischenmenschlichen Beziehungen spiegelt.

Das Buch beginnt mit einem Zusammenbruch: es ist der des Dritten Reichs. In diesem Zusammenbruch agieren sich die beiden Figuren Margarete und der Deserteur Walter aus. Aus den Ruinen aber steht etwas ganz Bestimmtes und etwas ganz Krudes auf, es nennt sich DDR. Und sarkastischer als bei Jirgl ist dieses Staatsgebilde wohl nie beschrieben worden. Entscheidend wird für den Autor, und das geschieht in radikalster Konsequenz, die Form, mit der die Inhalte transportiert werden. Man merkt deutlich die ästhetische Prägung durch Heiner Müller, und daneben und darunter auch diverse Lektüren der westlichen Avantgarde. Die Textmaschine holt immer weiter aus. Sie bearbeitet den Abgrund des Östlichen, hämmert und schmiedet eine Endwelt und eine Endzeit, legt die Schlacke frei, die Asche, den Restmüll. Es geht um die Abfallprodukte der Gesellschaft.

Jirgls Schreibsystem hat sich, abgeschottet in der Endzeit der DDR, aus sich selbst heraus entwickelt. Es hat in die deutsche Sprache einige eigene Pflöcke eingetrieben und unterscheidet allein fünf Formen der Schreibweise für die Konjunktion "und". Effektvolle Signale wie Frage- oder Ausrufezeichen stehen am Satzanfang, und befremdlich wirkt auch Jirgls Manie, fast alles, was mit dem Pronomen "ein, eine, eines" und mit der Zahl "eins" zu tun hat, auch als Zahl zu schreiben: mit einer "1".

Diese Genauigkeit, diese Ausdifferenzierung des sprachlichen Materials ist das Gegengewicht und ein Resultat dessen, dass alle Sicherheiten schwinden, dass nichts Vorgegebenes mehr trägt. Das exakte Zeichensystem entspricht dem Vagen, dem Verschwimmenden dessen, was erzählt wird. Jirgls Satzzeichen sind Zeichen der Auflösung. Und somit steht am Ende des "Mutter Vater Romans", dessen Inhalt man nur durch die Beschreibung der äußeren Form wiedergeben kann, ein Beginn: ein erst jetzt in der Öffentlichkeit wahrzunehmender unverkennbar eigener Schreibstil.

Besprochen von Helmut Böttiger

Reinhard Jirgl: Mutter Vater Roman
Hanser Verlag, München 2012
439 Seiten, 24,90 Euro