Eindimensional und wenig genau

Rezensiert von Klaus Schroeder · 10.03.2013
Hans-Ulrich Wehler glaubt, dass die sozialen Unterschiede in Deutschland zunehmen und die Umverteilungsmechanismen versagen. Doch seine Art, mit Zahlen und Aussagen umzugehen, zeigt, dass er vor allem Fakten nutzt, die seine Thesen bestätigen, meint Klaus Schroeder.
Hans-Ulrich Wehler charakterisiert Deutschland auch in seinem neuen Buch als eine Klassengesellschaft, die von starker sozialer Ungleichheit geprägt ist. Wenn nicht endlich soziale Gerechtigkeit hergestellt würde, warnt er, sei auch die politische Stabilität gefährdet. Schuld an diesem bedrohlichen Zustand sei ein entfesselter Kapitalismus.

"Der von einem blindwütigen, grenzenlos habgierigen Turbokapitalismus verursachte Zusammenbruch der internationalen Finanzmärkte, parallel dazu die seit 1929 schlimmste Depression der Realwirtschaft, werden diese Problematik auf absehbare Zeit noch weiter verschärfen."

Sein unter Bezug auf den französischen Soziologen Pierre Bourdieu entworfenes Bild von der sozialen Realität in Deutschland basiert jedoch auf fragwürdigen Daten und Annahmen.

Die gigantische Wohlstandsentwicklung in der alten Bundesrepublik, die nahezu allen Bevölkerungsschichten zugutekam, beschreibt Wehler zutreffend und verweist auf die erstaunliche Kontinuität von Ungleichheit. Ob diese vielleicht auch eine der Quellen der Wohlstandsentwicklung war, fragt er jedoch nicht. Um seine These von der neuen Umverteilung zu belegen, zitiert er Zahlen aus verschiedenen Quellen, mischt sie munter durcheinander, ohne ihre unterschiedlichen Grundlagen zu berücksichtigen. Außen vor lässt er auch die sozialstrukturellen Veränderungen der letzten Jahrzehnte. Dabei haben diese erheblichen Einfluss auf die Messung von Ungleichheit.

Wer bei Wehler unter Bezugnahme auf eine Steuerstatistik von 1995 liest:

"Danach bezogen zehn Prozent etwa 35 Prozent des Nettogesamteinkommens, das 28-fache der untersten zehn Prozent",

der hält die Luft an und kann – zunächst – dem Autor nur beipflichten, wie ungleich die sozialen Verhältnisse in der Bundesrepublik sind. Dass diese Zahlen allerdings aus der Steuerstatistik stammen und keine Transfers berücksichtigen, erklärt Wehler dem Leser nicht. Tatsächlich fällt die Differenz bei den für die Betrachtung relevanten Haushaltseinkommen deutlich geringer aus: Das obere Zehntel verfügt "nur" über das gut Fünffache des unteren Zehntels.

Andere Behauptungen, die auf das vermeintlich Skandalträchtige heutiger sozialer Verhältnisse hinweisen sollen, werden nicht mit absoluten Zahlen unterfüttert. Und wenn doch, dann lassen sich Wehlers Zahlen nur schwer oder überhaupt nicht nachprüfen. Das war schon in seinen fünf Bänden zur deutschen Gesellschaftsgeschichte so. In der Fußnote zur Einkommensverteilung etwa werden mehrere Dutzend Studien aufgelistet. Woher genau die jeweiligen Zahlen stammen, ist im Text aber nicht vermerkt.

Dem Rezensenten ist es deshalb zum Beispiel nicht gelungen, in der erwähnten Literatur eine Quelle für diese Behauptung zu finden:

"Die reichsten fünf Prozent besaßen sogar zusammengenommen ein Einkommen, das 95 Prozent aller Einkommensbezieher zusammengenommen nicht erreichten."

So bleibt offen, ob diese gewagte Behauptung Wehlers Phantasie oder einer anderen Quelle entspringt.

Wenn Wehler die Einkommensungleichheit in Deutschland mit der anderer Staaten vergleichen würde, müsste er feststellen, dass die hiesige Ungleichheit weniger stark als in den meisten anderen Ländern ausgeprägt ist. Die dem deutschen Sozialstaat inne wohnenden Umverteilungsmechanismen federn die Ungleichheit der Markteinkommen beträchtlich ab.

Statt das zu beleuchten, widmet sich Wehler als nächstes den deutschen Vermögen – und konstatiert auch hier große Ungleichheit. Das reichste eine Prozent der Bevölkerung konzentriert immer mehr Vermögen auf sich, das ist richtig.

Doch Wehler vernachlässigt das Billionen-Vermögen der restlichen 99 Prozent, das diese in Form von Ansprüchen an die gesetzliche Rentenkasse haben. Die Vorgehensweise, Zahlen nicht zu hinterfragen, hält Wehler konsequent durch.

Doch was bleibt übrig, wenn man falsche und irreführende Daten außen vorlässt? Kaum mehr als die Feststellung, dass in den letzten beiden Jahrzehnten zwar eine sehr kleine Schicht immer mehr Einkommen und Vermögen angehäuft hat – dass sich ansonsten aber die Ungleichheit wenig verändert hat.

Alles ist gleichsam ungleich – das konstatiert Wehler auch unter den Alten, den Konfessionen und auf den Heiratsmärkten.

"Die Eheschließung wird, entgegen manchen Auflockerungstendenzen, noch immer weithin sozial geregelt. Denn in einem stabilen Ausmaß führen die Gefühle der Zuneigung und Liebe an erster Stelle unter Klassengleichen zu einer formellen Bindung."

Sollen wir etwa die "Quotenheirat" einführen, wonach jede dritte Akademikerin einen ungelernten Arbeiter heiraten muss?

Das Problem der Ungleichheit im Alter verlängert der Autor künstlich, indem er die durchschnittliche Lebenserwartung von Männern und Frauen um einige Jahre erhöht.

Wer angesichts der Beschreibung vermeintlich skandalöser sozialer Verhältnisse konkrete Vorschläge erwartet, wird vom Fazit des Historikers enttäuscht sein. In seinem Schlusswort lobt Wehler ausdrücklich die Wohlstandsentwicklung und den Sozialstaat in der alten Bundesrepublik. Erst die von Reagan und Thatcher politisch ins Spiel gebrachte neoliberale Politik hätte Elend und die Krise gebracht.

Die Finanzmarktkrise seit 2008 führt Wehler nur auf Marktversagen und nicht auch auf Staatsversagen zurück. Der moderne Staat habe die Krise entschärfen, aber bisher nicht überwinden können. Dass der gleiche moderne Staat vor allem in den USA durch eine Politik des billigen Geldes die Exzesse erst hervorgebracht hat, bleibt unerwähnt. Gleichwohl: Wehler setzt nicht auf Planwirtschaft, sondern auf eine sozialstaatlich regulierte Marktwirtschaft. Und auch die Ungleichheit verdammt er nicht generell, sondern nur ihre Auswüchse.

"Als realistische Politik kann daher nur die Abmilderung einer allzu krass ausgeprägten Hierarchie gelten. Denn auf die Mobilisierungsdynamik, welche die unverzichtbare gesellschaftliche Differenzierung vorantreibt und aufrechterhält, kann der pragmatisch klug handelnde Interventions- und Sozialstaat nicht verzichten."

Angesichts dieses Schlusswortes relativiert sich das zuvor Gesagte. Hätte Wehler genauer hingeschaut, hätte er bemerken können, dass die soziale Marktwirtschaft der Bundesrepublik eine vergleichsweise geringe Ungleichheit und hohe Chancengleichheit hervorgebracht hat, die gleichwohl verbessert werden sollte. Angesichts der Wiedervereinigung und der millionenfachen Einwanderung hat sich das "Modell Deutschland" durchaus bewährt – trotz einiger nicht zu übersehender Probleme.

Die eigentlich spannende Frage, was "soziale Gerechtigkeit" ausmacht und wie sie besser verwirklicht werden könnte, bleibt in diesem eindimensionalen Buch leider unbeantwortet.

Hans-Ulrich Wehler: Die neue Umverteilung. Soziale Ungleichheit in Deutschland
C.H. Beck, München 2013, 192 Seiten, 14,95 Euro
Cover: "Hans-Ulrich Wehler: Die neue Umverteilung"
Cover: "Hans-Ulrich Wehler: Die neue Umverteilung"© C. H. Beck
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