Einblicke ins Familienalbum

11.06.2010
Die stolz lächelnde Mutter am Strand, ein abweisend dreinblickender Vater im Garten, dann beide Eltern glücklich mit jenen Kindern im Arm, deren Heranwachsen man meint, Schritt für Schritt verfolgen zu können im Bilderstrudel eines wandfüllenden Tableaus in der Kestner-Gesellschaft.
Ein großformatiges Familienalbum der besonderen Art: grobkörnige, buchstäblich aus der Erinnerung aufgetauchte, aus alten Zeiten herüberschimmernde Fotos, die Larry Sultan aus Super-Acht-Amateurfilmen herauskopiert hat:

Martin Germann: "Fotografie war für Larry Sultan stets mehr ein Medium des Zweifels als des Beweises. Deshalb hat er diese Familienfilme genauer untersucht und in Einzelbilder zerlegt - die von Weitem wirken wie ein nostalgischer Traum, der niemals endet. Wenn man aber näher herangeht, haben einige Motive Momente des Unheimlichen oder es wird ein bisschen absurd, bizarr. Unsere Erinnerung ist auf eben genau diese projektive Weichzeichnung angewiesen, die diese film stills anbieten."

Kurator Martin Germann spricht für Larry Sultan, den vor wenigen Monaten verstorbenen Fotografen und Kunstprofessor. Anfang der Achtziger hatte der studierte Soziologe zur Kamera gegriffen, angeleitet von Robert Heinecken, dem Pionier der sogenannten appropriation art, der künstlerischen Aneignung von Bildern aus Illustrierten oder eben: Familienalben. Dass Sultan jede subjektive "Inspiration" verworfen hatte, aber auch den vorgeblich dokumentarischen Charakter der Fotografie infrage stellte, beweist seine Serie "Homeland": großformatige Landschaftsbilder nach dem Vorbild der Maler der Hudson River School mit Männern, die im Kanu einen Fluss überqueren oder die Weite riesiger Felder durchmessen.

Die Pioniere von damals lässt der Fotograf von mexikanischen Wanderarbeitern und Tagelöhnern spielen. Wer genauer hinschaut, erkennt die Inszenierung - und damit auch die Doppelbödigkeit dieser spröde, bisweilen harmlos wirkenden Fotografien. Wer's nicht sieht, für den hat Larry Sultan jeweils ein paar Zeilen zu jedem Bild geschrieben:

Martin Germann: "Dass alle Bilder gewissermaßen auf Textebene widerlegt werden. Das heißt, es gibt zu jedem Bild, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so erscheint, einen Widerspruch im Text."

Die Kurzgeschichten sind durchaus nicht als Anekdoten zu lesen, verraten auch nicht, was hinter den Bildern steckt, sondern eröffnen einen Dialog zwischen Betrachter und Foto, einen "Bildraum". Da wird etwa Sultans Vater zitiert, der am Tag seiner Entlassung als Manager im dunklen Anzug auf dem akkurat zurechtgezogenen Ehebett sitzend porträtiert wird - und dem Sohn antwortet: "Das bin nicht ich, den du jetzt fotografierst - das ist auch dein Selbstporträt!" Im Wissen um diese Entstehungsgeschichte geraten Klischees ins Wanken, wird der Blick geweitet. Larry Sultan selbst hatte die Serie "Pictures from Home" sehr zielgerichtet als politisch engagierte Analyse der neoliberalen Politik begonnen, er wollte in den Achtzigern zeigen, was Präsident Reagan und seine "reagonomics" in den idyllisch wirkenden suburbs und den typischen Mittelklasse-Familien angerichtet hatten.

Martin Germann: "Das Moment der Dokumentation beinhaltet ja auch eine gewisse Neutralität. Aber im Laufe der Serie sagt er, er wisse nicht so genau, warum er mit diesem Projekt weitermacht. Das hätte mehr mit Liebe als mit Soziologie zu tun: Er möchte, dass seine Eltern für immer leben. Das heißt, er kombiniert diese beiden Momente mit eben diesem soziologischen, mit dieser Kritik des Familienbildes, Kritik an der Konstruktion 'Familie'."

Fotografie also im klassischen Sinne als stillgestellte Zeit - aber nie als letztgültige Antwort. Das scheint ein höchst theoretischer Anspruch - den Sultan aber in seiner Serie "The Valley" auf ironisch-leichte Art realisiert: In einem Tal bei Hollywood hat er die Dreharbeiten für Pornofilme fotografiert, groben Sex in den Kulissen der gehobenen Mittelklasse, zwischen Kitsch-Accessoires wie Marmorbüsten und meterhohen Blumensträußen, die in all ihrer falschen Pracht den Rahmen abgeben für kümmerliche "Geschichten", für die ewig gleiche Nummern-Revue:

Martin Germann: "Um die - Anführungsstriche - "Verruchtheit" ins bürgerliche Milieu einziehen zu lassen, werden die Pornofilme in Häusern von Zahnärzten oder Rechtsanwälten gedreht. Einerseits wird sichtbar, dass hinter dem inszenierten Begehren auch nur ganz normale Arbeit steckt, dass die Leute danach erschöpft nach Hause gehen. Und zum Zweiten wird sichtbar, dass gerade diese Dramatik eine Humorkomponente beinhaltet, die für Larry Sultan immer besonders wichtig war."

Nur provoziert dieser Fotograf kein lautes Lachen. Larry Sultan überantwortet die Suche nach der Pointe dem Blick des Betrachters, setzt das Publikum den Paradoxien seiner Fotos aus, ohne festen Halt, ohne Klassifizierungen und Klischees.

Martin Germann: "Ich halte ihn für einen Künstler, der sehr schwer einzuordnen ist, weil er eben so diffuse Themen wie Heimat und das Eigene mit so explizit kalten Dingen wie Konzeptualismus in Verbindung bringt. Es gab einen Nachruf, in dem Larry Sultan als 'konzeptueller Humanist' bezeichnet wurde."


Service:
Larry Sultan "Katherine Avenue", Kestner Gesellschaft, 11. Juni bis 22. August 2010