Einblick in die Welt des Mittelalters

Rezensiert von Jochen R. Klicker |
Jacques Le Goff zeigt mit seinen erzählerischen Texten in "Ritter, Einhorn, Troubadoure" einen Einblick in die phantasievolle Seite des Mittelalters. Dazu zählt Robin Hood genauso wie das Einhorn und der Jongleur. Es gibt nicht viele Bücher, die auf derart kulinarische Weise historische Information, kulturelle Sachkompetenz und dokumentarische Illustration - verbunden mit vergnüglicher Belehrung - zusammenfassen.
"Die Burg als Festung und Residenz, das starke und reine Fabelwesen Einhorn, der romantische Held Robin Hood, der vorurteilsbeladene Jongleur, die sakral triumphierende gotische Kathedrale, der Zauberer und Traumdeuter Merlin, der kühne, abenteuerliche und edle Ritter, das unerschöpfliche Schlaraffenland und die Troubadoure als schmachtender Sänger der höfischen Liebe..."

Diese neun Schlüsselwörter – hier nach dem Alphabet geordnet - und elf weitere Kernbegriffe liefern das Gerüst für einen einmaligen Ausflug in die bunte und phantasievolle Bildwelt des Mittelalters mit ihren beeindruckenden Helden und unglaublichen Wundern. Schon in seiner Einleitung warnt jedoch der Autor, der französische Historiker Jacques Le Goff, davor, allzu viel "Geschmack am Mittelalter" zu bekommen.

"Heute ist das Mittelalter wieder in Mode, zwischen Licht und Schatten. Dabei kann der Spaziergang durch das Mittelalter dem Leser natürlich nur Spuren aufzeigen und keine Gesamtschau bieten. Er zeigt ihm aber, dass die Geschichte, die ja auf Quellen beruht, die ein Wiederbeleben der Vergangenheit ermöglichen, sich immer wieder ändert, sich verwandelt, je nach den von Menschen erfundenen Ausdrucks- und Kommunikationsmitteln."

Dabei ist Jacques Le Goff zu danken, dass es zu seinen Ausdrucksmitteln gehört, keine Trennungslinie zu ziehen zwischen den Personen, die historisch verbürgt sind und ihre Geschichte bei sich tragen und jenen "erfundenen" Kunstfiguren aus der Literatur, die zu ihrer Zeit nicht weniger glaubhaft, also ebenso wirkungsmächtig und zukunftsträchtig gewesen sind. So, wie er auch die Übergänge fließend angelegt hat zwischen dem vorliegenden Band "Helden und Wunder des Mittelalters" und dem bereits im Jahre 2004 erschienenen Buch über "Die Geburt Europas im Mittelalter". Dieser Studie sollte ursprünglich ein umfangreiches Glossar aller Namen und Begriffe beigegeben werden. "Durch die Präzisierung dieser erläuternden Texte und deren liebevolle Illustration ist daraus ein selbstständiges neues und faszinierendes Buch entstanden, in dem man sich sofort festliest", schreibt der Berliner Kulturhistoriker Olaf B. Rader.

Mit besonderer Sorgfalt untersucht Le Goff, wie die Helden und Wunder des christlichen Mittelalters von einer Epoche in die andere zur jeweils neuen Interpretation der Bilder, Wörter und Chiffren weitergereicht worden sind. Nachdrücklich betätigten sich bei einer solchen kritischen Revision der Bildwelten die - überwiegend westeuropäischen - Humanisten des 17. Jahrhunderts und Romantiker des 19. Jahrhunderts. Le Goff - zum Beispiel zur Mittelalter-Kritik der beginnenden Neuzeit:

"Der Erbteil an Mythen, Helden und Wundern war in Vergessenheit geraten, als das 17. und 18. Jahrhundert "ihrer verlustig ging", da sich vom Humanismus bis zur Aufklärung ein "schwarzes" Bild vom Mittelalter herausbildete und einprägte: Epoche des Obskurantismus, Welt der Finsternis, dark ages lauten die Etiketten. Sämtliche Helden und Wunder wurden ausnahmslos wieder zu "Barbaren"."

Ganz anders urteilte die Romantik - wie Le Goffs Kompendium der mittelalterlichen Bildwelt in einmaligen Illustrationen zeigt, die insbesondere die beiden umfangreichsten Stichwörter, nämlich "Die Burg" und "Ritter und Rittertum" begleiten. Der französische Gelehrte gerät fast - und zu Recht - ins Schwärmen, wenn er von der enthusiastischen Wiederentdeckung des Mittelalters in den abendländischen Nationalkulturen beziehungsweise -literaturen des 19. Jahrhunderts spricht:

"Die Romantik lässt die mittelalterlichen Legenden und Mythen wieder aufleben, verhilft ihnen zu einer neuen Geburt in der Bildwelt."

Und ausgerechnet die Kinder der Moderne sorgen nun heute dafür, dass die Burg samt ihrer ritterlichen Bewohner um ihr Fortleben nicht mehr bangen muss.

"Von allen Wunderwerken des Mittelalters hat die Burg sich diese Vorrangstellung gesichert, weil sie sich die Köpfe und Gefühle der Kinder erobert hat."

Selten habe ich ein Buch in Händen gehabt, dass auf derart kulinarische Weise historische Information, kulturelle Sachkompetenz, dokumentarische Illustration und - wie Bert Brecht sagen würde - vergnügliche Belehrung auf 240 quadratischen Kunstdruck-Seiten zusammenfasst.

Und fast nebenbei hat "Ritter, Einhorn, Troubadoure - Helden und Wunder des Mittelalters" noch eine angenehme Nebenwirkung: Es zeigt uns Nachgeborenen, wie ein grenzübergreifendes Empfinden kultureller Zusammengehörigkeit in Europa entstanden ist. Eben durch die unaufhaltsame Verbreitung der mittelalterlichen Bildwelt von Polen bis Portugal.

Le Goff, Jacques:
Ritter, Einhorn, Troubadoure -
Helden und Wunder des Mittelalters,

aus dem Französischen von Annette Lallemand.
C.H. Beck Verlag München 2005,
240 Seiten mit 147 farbigen Abbildungen,
29,90 Euro.