Einblick in die Seele

26.10.2009
Anne Enright ist wahrlich keine Autorin, die uns mit poetischen Bildern lockt. Nicht einmal ein besänftigender Blick in wolkengebauschte Himmel oder auf schimmernde Meere ist uns vergönnt. Enright labt weder sich noch uns an den Schönheiten der Natur, sondern schaut insistierend und mit einer fast wütenden Genauigkeit hinein ins tägliche Einerlei des Lebens.
Hinein in die Seelenkammern der Menschen, die die Ödnis ertragen, kleine Siege erringen, dem Jammer erliegen. Es geht um beladene Mütter, belastete Familien, verwirrte Männer, unruhige Frauen; es geht um die Liebe, den Tod und die Verlassenheit im Leben – um die Grundkonstanten unseres Daseins halt.

Es sind die Nischen, in denen das Unheil hockt, und in den Nischen treibt sich Enright herum. Dort, wo soziale oder psychische Kälte, wo der Alkohol die Beziehungen zwischen Menschen prägt. Wo Verzweiflung und Angst der Flucht vor der Wirklichkeit innewohnen. Wo die Komik lauert am Rande des Abgrunds. Natürlich ist es ein böser Witz, der in Enrights Erzählungen auftaucht und sein Unwesen treibt. Lachen muss man dennoch - oder erst recht.

Wie bizarr das Leben der jungen Frau, die an die Liebe nicht mehr glauben mag, einen älteren Mann heiratet und sich ziemlich ratlos neben dem behaarten greisen Säugling im Bett wiederfindet. Also flieht sie zu ihrem völlig verrückten Freund, mit dem sie - wenn er nicht gerade im Irrenhaus sitzt - so oft wie möglich Sex hat, "süß wie Regenwasser", während er seine Nerven immer mehr verliert.

"Ich liebe die Geschichten hinter den Geschichten", hat Anne Enright einmal gesagt - und manche ihrer scheinbar gefahrlosen, tatsächlich aber subversiven Erzählungen muss man zweimal lesen, bevor das bittere Gift, die traurige Schärfe mit aller Vehemenz im eigenen Hirn sich entfalten.

Natürlich ist es auch die Ratlosigkeit der Moderne, die durch die Geschichten wandert. Die Angst vor Gefühlen. Oder gar der Liebe. Die in diesen Erzählungen scheinbar eher auf Nebengleisen rollt. Und dort mal als eine reine Verschwendung von Energie beschrieben wird, mal als altmodisches Sehnsuchtsziel.

Manche Geschichten sind peinigend und schmerzlich schön. So erzählt ein junges Mädchen von ihrer Freundin Natalie, die das Dahinsiechen der Mutter ihres Partners rüde negiert. So lange man nicht wisse, ob sie nun wirklich demnächst sterben werde, müsse man doch auch nicht so'n Aufstand machen. Und das Mädchen – im Seidenkleid herausgeputzt für den Abschlussball - spürt plötzlich und verschlingend die Einsamkeit des Todes.

Eine irische Studentin in Amerika wird von ihrer chinesischen Mitbewohnerin mitten in der Nacht fast mit einem Kissen erstickt. Und begreift kaum was geschah. Denn während der Attacke hatte sie zum ersten Mal ihr innerstes Selbst gespürt, eine fast frohlockende Freude empfunden. Das sind Momente, in denen wir unser stupides, abgewetztes Selbst in uns spüren. Erst wenn der Tod uns anspringt, begreifen wir unsere Lebendigkeit.

Anne Enright ist eine Meisterin darin, jede noch so verborgene menschliche Torheit ans Licht zu zerren. Immer wieder auch in einer derben und fast schamlos direkten Sprache – aber auch mit vielen Zärtlichkeiten in Halbsätzen, die man auf keinen Fall überlesen sollte.

Besprochen von Gabriele von Arnim

Anne Enright: Alles, was du wünschst
Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser und Jürgen Schneider
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2009
262 Seiten, 19,95 Euro