Ein zärtliches Gespür für die Nacht

10.07.2007
Ein Mädchen ist verschwunden, Kommissar Kimmo Joentaa macht sich im südfinnischen Turku an seinen zweiten Fall. Doch es geht in "Das Schweigen" weniger um die raffiniert konstruierte Handlung und ihre ziemlich überraschende Wendung am Schluss. Der Schriftsteller Jan Costin Wagner zeichnet sich vor allem durch ein zärtliches Gespür für die finsteren Seelenzustände seiner Figuren aus.
Jan Costin Wagner hat den Kriminalroman bisher eher spielerisch umkreist. Sein Debüt "Nachtfahrt" (2002) erzählte von einem Schriftsteller, der wie eine Figur Dostojewskis aus nihilistischer Weltverachtung heraus zwei Morde begeht. In "Eismond" (2003) stand nicht die Jagd nach einem Mörder im Mittelpunkt, sondern der Schmerz des jungen finnischen Polizisten Kimmo Joentaa über den Tod seiner gerade erst verstorbenen Frau.

Und in "Schattentag" (2005) trat das am Anfang angedeutete Verbrechen schon bald hinter der Geschichte einer scheiternden Ehe in einer deutschen Vorortsiedlung zurück. Mit seinem neuen Roman legt Jan Costin Wagner nun auf den ersten Blick ein eindeutiges Bekenntnis zum Genre ab. "Das Schweigen" ist die Fortsetzung von "Eismond", Kommissar Kimmo Joentaa macht sich im südfinnischen Turku an seinen zweiten Fall.

Ein Mädchen ist verschwunden. Die vierzehnjährige Sinikka Vehkasalo ist nach dem Volleyballtraining nicht nach Hause gekommen. Am nächsten Tag wird ihr Fahrrad gefunden, genau an der Stelle, an der über dreißig Jahre zuvor ein unbekannter Täter ein anderes Mädchen vergewaltigt und umgebracht hat. Ein Kreuz erinnert an das Verbrechen von damals.

Doch während Kimmo Joentaa davon ausgeht, dass es sich um einen Nachahmungstäter handelt, beharrt sein älterer Kollege Ketola darauf, dass der Mörder von einst ein weiteres Mal zugeschlagen hat. Ketola, der gerade erst in den Ruhestand gegangen ist, drängt darauf, in die Ermittlungen eingebunden zu werden, und während noch Taucher und Hundestaffeln nach Sinikkas Leiche suchen, beginnt der pensionierte Kommissar dem mutmaßlichen Täter von damals und heute eine gefährliche Falle zu stellen.

Doch es geht weniger um die raffiniert konstruierte Handlung und ihre ziemlich überraschende Wendung am Schluss. Der 1972 geborene Schriftsteller Jan Costin Wagner zeichnet sich vor allem durch ein zärtliches Gespür für die finsteren Seelenzustände seiner Figuren aus. So gelangt zum Beispiel Kommissar Joentaa im Laufe der Ermittlungen zu der beklemmenden Erkenntnis "dass er selbst nie mehr vor irgend etwas Angst haben musste. Weil er, im Gegensatz zu den Eltern des verschwundenen Mädchens, diese Phase bereits hinter sich hatte, er längst das Wichtigste verloren hatte", seine Frau Sanna nämlich, mit deren Tod der Roman "Eismond" begann.

Mehr als die Ermittler interessieren Wagner allerdings schon immer die Täter. In "Das Schweigen" widmet er sich von den ersten Seiten an mit geradezu beunruhigendem Einfühlungsvermögen dem Mann, der an der Vergewaltigung und dem Mord vor dreißig Jahren beteiligt war. Timo Korvensuo ist mittlerweile zum Familienvater geworden ist, und es gehört zu beklemmendsten Augenblicken in diesem Roman, wenn der Mann, der auf seinem Bürocomputer ein eigenes Verzeichnis für Kinderpornografie angelegt hat, am Feierabend seinen kleinen Sohn überglücklich in die Arme schließt, bis der fast keine Luft mehr bekommt und "halb lachend, halb verängstigt" aufschreit: "Tut doch weh, Papa!"

Es sind diese Momente, in denen tief empfundene Liebe und rohe Gewalt bedrohlich miteinander verschmelzen, die den dunklen, romantischen Kern von Jan Costin Wagners Werk bilden. Zuletzt wird man darum auch angesichts von "Das Schweigen" das Gefühl nicht los, dass die Elemente des Kriminalromans – ein Verbrechen, Polizisten, eine Ermittlung – nur ein zufällig gewählter Rahmen sind. Die Frage ist weniger, ob Wagner sich dem Gesetz der Serie unterordnet und es demnächst einen dritten Kimmo-Joentaa-Roman geben wird, sondern welche Abgründe dieser Schriftsteller noch für uns bereit hält.


Rezensiert von Kolja Mensing

Jan Costin Wagner: Das Schweigen
Eichborn, Frankfurt am Main 2007, 283 Seiten, 19,95 Euro