Ein Wort für jeden Tag

Von Adolf Stock · 29.12.2012
Über eine Million Mal pro Jahr wird im deutschsprachigen Raum das Büchlein mit den Herrnhuter Losungen verkauft. Die Bibelsprüche für jeden Tag gehen zurück auf den Grafen von Zinzendorf in der Lausitz – und wurden in mehr als 50 Sprachen übersetzt, von A wie Albanisch bis Z wie Zulu.
"Ich habe morgens, wenn ich am Frühstückstisch sitze, mein iPad an, und auf diesem iPad wird die Losung als E-Mail geschickt, und somit habe ich links neben meinen Frühstücksbrett noch ein weiteres Brett, auf dem ich die Losung des Tages lese."

Martin Kröger ist 55 Jahre alt, wohnt auf dem Land und arbeitet als Krankenpfleger in Hamburg. Er ist ein fröhlicher Mensch, der spontan auf seine Mitmenschen zugeht. Mit seinem Tablet, das er vielseitig zu nutzen weiß, ist er medial auf der Höhe der Zeit.

Gisela Kessler hat keinen Tablet-PC. Sie liest ihre Losungen in einem kleinen blauen Buch. Im neuen Jahr wird es die 283. Ausgabe sein, die auf Deutsch in einer Auflage von rund einer Million Exemplaren erscheint. Gisela Kessler, die eigentlich aus Norddeutschland stammt, lebt heute bei Freiburg im Breisgau. Ihr verstorbener Mann war der Sohn eines Pfarrers aus Herrnhut:

"Die Losungen habe ich allerdings schon lange vorher gelesen, seit meiner Jugendzeit an. Sie sind ja verbreitet in allen Denominationen, nicht – und geliebt, die waren für mich wegweisend."

Martin Kröger und Gisela Kessler sind treue Losungs-Leser. Wie viele Christen auf der ganzen Welt beginnen sie den Tag mit einer Bibelstelle aus dem Alten Testament, die in Herrnhut ausgelost wurde. Die Losungen werden in mehr als 50 Sprachen übersetzt, von A wie Albanisch bis Z wie Zulu.

Losungen: Man denkt an die Ziehung der Lottozahlen, an antike Orakel oder ans Horoskop. Dabei wurden die Losungen zunächst gar nicht gelost, sagt Karin Wiedemann, Pfarrerin in Herrnhut, die bis 2010 die Bibelstellen bearbeitet hat:

"Die Losungen haben von Anfang an Losungen geheißen, auch zu einem Zeitpunkt, als die Texte noch nicht gelost waren, sondern der Graf von Zinzendorf die noch persönlich ausgesucht hat. Dahinter steckte die Anknüpfung an den militärischen Sprachgebrauch der Parolen, also der Worte für einen Tag, die eben Menschen verbindet. Im Englischen heißen die bis heute 'watchwords', das ist ja dasselbe Wort, also auf der Wacht sein."

Peter Zimmerling lehrt Praktische Theologie in Leipzig. Er sagt, im Mittelalter wurden wichtige Ämter durch Losverfahren bestimmt. Graf Zinzendorf habe diese alte Tradition Anfang des 18. Jahrhunderts spiritualisiert und in geistliche Kategorien überführt. Bei den Herrnhutern wurden auch Ehen gelost – und noch mehr, wie Gisela Kessler weiß:

"Wenn zum Beispiel die Missionare, wenn bei den Missionaren ausgelost wurde, in welches Gebiet sie gehen sollten. Es kamen einige infrage, aber man konnte sich nicht klar entscheiden und die selber auch nicht, denn sie kannten ja auch das Land nicht, und da haben sie das Los als Gottesentscheidung hingenommen."

Erst nach Zinzendorfs Tod wurden auch die Bibelverse gelost, weil es damals keinen charismatischen Führer mehr gab, der sie hätte auswählen können. Peter Zimmerling war einmal in Herrnhut dabei:

"Da wurde also für Ostern eine Losung gezogen, die wirklich überhaupt nicht passte, und da habe ich mir so überlegt, der Graf Zinzendorf hätte das Los sicher wieder reingeworfen, und Gott eine zweite Chance gegeben. Das ist allerdings heute nicht der Fall, weil das natürlich auch so festgehalten wird, protokolliert, das ist sehr juristisch, dass da keine Fehler passieren."

Es werden Sprüche aus dem Alten Testament gezogen. Später werden sie mit einem passenden Lehrtext aus dem Neuen Testament ergänzt. Hinzu kommt ein Kirchenlied, das in den letzten Jahren allerdings mehr und mehr durch einen religiösen Text ersetzt worden ist.

"Es ist insofern ja doch Gottes Wille und Wort darin, weil es ein Teil des Wesens Gottes ist, also manchmal trifft es auf den Einzelnen zu, manchmal trifft es nicht auf einen selber zu, dann denkt man, vielleicht kann ein Anderer heute mehr davon angesprochen sein, und insgesamt ist die Losung es eine Stärkung für die Gemeinde ganz allgemein – oder?"

Für Gisela Kessler sind die Losungen ein tagtägliches Gotteswort, das ermahnt, tröstet oder Freude bringt. Sie würde eine Losung niemals als Orakel missverstehen. Andere sind da anfälliger: So soll im Ersten Weltkrieg General Ludendorff kriegswichtige Entscheidungen von den Losungen abhängig gemacht haben. Peter Zimmerling warnt:

"Man kann die Losung als Horoskop missbrauchen, das ist ein Problem, das kann man auch nicht ausschließen, aber es kommt eben darauf an, mit welcher Einstellung ich das Losungsbuch benutze. Und da weiß ich ja, dass jedes Bibelwort auch einen Kontext hat, und ich weiß auch, dass Gott eben normalerweise sich nicht so für meine Vorstellungen und Wünsche verzwecken lässt."

Schon Graf Zinzendorf hatte die "Wehleidigkeit" und "Larmoyanz" vieler Christen beklagt, die Gottes Wort nur auf sich selbst beziehen. Mit Gott sollten die Menschen einen respektvollen Umgang pflegen.

Pfarrerin Karin Wiedemann weiß, dass die Menschen eine große Sehnsucht haben, Gott nahe zu sein:

"Man möchte das gerne, dass Gott spricht, weil man einfach für sich einen Hinweis erhofft, für eine bestimmte Entscheidung oder für einen Weg im Leben. Und den erhofft man dann eben auch aus solchen gelosten Worten, was aber nur sehr bedingt funktioniert.""