Ein unterentwickelter Träumer

28.10.2008
Schnoddrig, ironisch und mit gnadenloser Schärfe beschreibt Edmundo Desnoes in seinem Roman "Erinnerungen an die Unterentwicklung" das kubanische Leben der 60er-Jahre. Im Mittelpunkt: ein eher glückloser Müßiggänger, der tagebuchartige Aufzeichnungen über die Zustände der Insel verfasst und ein schwer greifbares, aber faszinierendes Unbehagen spüren lässt.
Edmundo Desnoes’ "Erinnerungen an die Unterwicklung" ist eines jener Bücher, denen man im Handumdrehen verfällt. Das liegt vor allem am Ton: knapp, schnoddrig, ironisch und mit gnadenloser Schärfe nimmt der Ich-Erzähler sein kubanisches Leben ins Visier und schildert uns seine private Lage kurz nach der Revolution im Spätsommer 1962.

Das Ganze setzt mit einer Abschiedsszene am Flughafen ein: Die Eltern und die Noch-Ehefrau des Helden siedeln nach Nordamerika über, der Protagonist bleibt allein zurück. Durch die Revolution von seinen Pflichten als Inhaber eines Möbelgeschäfts entbunden und von seinen Besitztümern enteignet, hat er plötzlich Unmengen an Zeit.

Er klemmt sich hinter seine Schreibmaschine, denkt über die Eigenarten der Kubaner nach, zieht über einen Schriftsteller namens Eddy her, hinter dem sich natürlich der Verfasser Edmundo Desnoes selbst verbirgt, begutachtet die zurückgelassenen Kleider und Kosmetika seiner entschwundenen Frau, streift durch Havanna und fängt mehr aus Langeweile mit einem Mädchen eine Liebschaft an, die ihn schließlich in den Knast bringt, weil seine Gespielin noch minderjährig ist. Der glücklose Müßiggänger entgeht einer Verurteilung, wird entlassen und landet kurz darauf wieder im Bett, dieses Mal mit seiner Haushaltshilfe.

Aber just in diesem Moment wird er abgelenkt: Es ist der Tag der Kubakrise, und im Rundfunk droht Kennedy mit Krieg. "Erinnerungen an die Unterentwicklung" endet mit drei von dem Helden verfassten Kurzgeschichten, auf die im Verlauf des Romans bereits angespielt wurde - wunderbare Miniaturen, die man als metaphorische Verdichtungen der kubanischen Revolution deuten kann.

"Ich bin ein Träumer, und ich bin unterentwickelt; das Schlimme daran ist, dass ich es weiß", lässt Edmundo Desnoes sein alter ego verlauten.

"Das Klima ist sehr mild, es verlangt wenig vom Individuum. Jeder Kubaner verwendet sein ganzes Talent darauf, sich dem Moment anzupassen. Dem Anschein."

In Kuba ertrage man nicht viel, ohne in Gelächter auszubrechen. Passt das zum Ernst der Revolution?

Desnoes, 1930 in Kuba geboren, 1979 in die USA emigriert und als Journalist zunächst aktiv an den kulturellen Umbrüchen nach der Revolution beteiligt, verarbeitet autobiografische Erfahrungen und legt seinen schmalen Roman "Erinnerungen an die Unterentwicklung" nach dem Muster eines Tagebuchs an. Das Ergebnis ist ein großartiges Zeugnis der inneren Zustände seines Landes.

Im Zentrum steht eine Erfahrung von Mehrdeutigkeit - schon das ist inmitten der politisch eindeutig positionierten Literatur jener Zeit bemerkenswert. Desones’ Held schwankt nämlich zwischen extremen Stimmungslagen: Mal überwiegt ein Gefühl der Befreiung und der Teilhabe am tatsächlichen Leben, mal beherrschen ihn Empfindungen von Ungenügen und Depression. Für die intellektuelle Energie scheint es gar keinen Raum zu geben, durch die Revolution fühlt er sich seinem Land entfremdet. Auf einmal ist man eingesperrt in Kuba, die internationalen Anbindungen sind gekappt, Zeitungen und Zeitschriften nicht mehr verfügbar, Reisen unmöglich.

Bereits 1965 im Original erschienen, bricht Desnoes mit den erzählerischen Prinzipien des sozialistischen Realismus, schwelgt auch nicht im magischen Realismus, wie er einige Jahre später in Mode kommen sollte, sondern erkundet stattdessen das Innenleben seiner Figur. Damit knüpft er an einen psychologischen Realismus an, unterfüttert ihn aber mit südamerikanischen Elementen.

Wie Desnoes im Nachwort erklärt, ist der Titel "Memorias del subdesarrollo" von Dostojewskis "Aufzeichnungen aus einem Kellerloch" inspiriert, das auf Spanisch "Memorias del subsuelo" heißt, atmosphärisch ist eine Nähe zu Camus’ "Der Fremde" spürbar, und die ungeschliffene, direkte Sprache seines Helden nimmt Bezug auf Pío Barojas "El árbol della ciencia". Weltberühmt wurde der Roman durch die suggestive Filmfassung von Tomás Gutiérrez Alea.

Als "Erinnerungen an die Unterentwicklung" 1965 erschien, warf man dem Verfasser in Kuba "bürgerlichen Idealismus" vor, aber seine literarische Intensität bezieht der Roman gerade aus dem schwer greifbaren Unbehagen des Helden. Eine große Wiederentdeckung.

Rezensiert von Maike Albath

Edmundo Desnoes, Erinnerungen an die Unterentwicklung
Aus dem Spanischen von Gisbert Haefs
Bibliothek Suhrkamp, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2008
54 Seiten, 13,80 Euro