Ein unkonventionelles Leben

09.08.2008
Frauen, die mit den gesellschaftlichen Regeln brechen, spielen die Hauptrollen in Willa Cathers Romanen. "Lucy Gayheart" gestattet sich eine ungewöhnliche Liebe und weist gleichzeitig einen schwerreichen Frauenschwarm ab. Es fehlt dem Buch nicht an dramatischen Verwicklungen, und der Schluss zerreißt einem das Herz.
Lucy Gayheart steckt voller Lebenslust. Das junge Mädchen aus der Kleinstadt Haverford studiert Klavier an der Musikhochschule von Chicago, hält sich mit Unterricht über Wasser, bewohnt ein kleines Zimmer und genießt ihre Unabhängigkeit. Wenn sie mit schnellem Schritt die Straße hinunter stürmt, hat das etwas Ansteckendes.

"Es hatte ausgesehen, als eile sie etwas Herrlichem entgegen und als könne sie sich unmöglich aufhalten lassen", erinnert sich die alte Mrs. Ramsay aus Haverford. Eines Tages empfiehlt sie ihr Professor dem Tenor Clement Sebastian als Liedbegleiterin, und von nun an probt Lucy Morgen für Morgen anderthalb Stunden mit dem international bekannten Künstler, dessen Interpretationen sie tief berühren.

Es dauert nicht lange, und Sebastian wird zu ihrem Lebensmittelpunkt. Lucy erlebt keine haltlose Jugendschwärmerei, sondern empfindet die neue Gefühlswelt als Offenbarung: Plötzlich ist die Wirklichkeit weiter und größer geworden, plötzlich haben die Dinge eine tiefere Schönheit. Zwischen ihr und dem dreißig Jahre älteren Mann entwickelt sich eine zarte Liebesfreundschaft, bei der nichts passiert, das über innige Umarmungen hinausginge.

Just in diesem Moment fällt ihr Jugendfreund Harry Gordon in Chicago ein, hoffnungsvoller Spross einer schwerreichen Familie, und macht Lucy einen Heiratsantrag, den sie stolz zurück weist. Harry ist vor den Kopf gestoßen - wie kann man einem Mann, dem die Frauenwelt von Haverford zu Füßen liegt, einen Korb geben?

Aus Trotz verehelicht er sich mit einer wohlhabenden, aber hässlichen Dame. Lucy erlebt einen Frühling voller Glück. Dann bricht Sebastian nach Europa auf. Für den nächsten Winter ist eine Arbeitsphase mit Lucy in New York geplant. Doch natürlich kommt alles ganz anders.

Willa Cathers Roman "Lucy Gayhear"t, der 1935 erschienen ist, ähnelt einem sorgfältig polierten Schmuckstück: Jedes Detail ist bedacht, die Figuren fügen sich zu einem ausgeklügelten Ensemble, die Geschichte hat einen inneren Rhythmus, es fehlt nicht an dramatischen Verwicklungen, und der Schluss zerreißt einem das Herz. Cather beherrscht ihr Handwerk perfekt, und sie gewinnt dem amerikanischen Realismus neue Schattierungen ab. In einem Essay über ihre Ästhetik beschreibt sie es so:

"Jeder Künstler weiß, dass es in der Kunst so etwas wie 'Freiheit' nicht gibt. Das erste, was ein Künstler tut, wenn er ein neues Werk beginnt, ist, die Grenzen und Beschränkungen festzulegen. (…) Er ist niemals frei, und je glänzender seine Einbildungskraft, je intensiver sein Gefühl, desto weiter entfernt er sich von der allgemeinen Wahrheit und dem allgemeinen Gefühl. Niemand kann die Sonne oder das Sonnenlicht malen. Er kann nur die Tricks malen, die die Schatten mit ihm spielen, oder was das Licht mit den Formen anstellt."

Und genau darauf - auf die Abstufungen der Wirklichkeit - versteht sich Willa Cather besonders gut. Die amerikanische Schriftstellerin, die 1873 geboren wurde, auf einer Farm in Nebraska aufwuchs und sich zuerst als Journalistin und Redakteurin in Chicago, Boston und New York einen Namen machte, ist nämlich vor allem eine großartige Psychologin. Von Lucy fertigt sie ein hoch differenziertes Porträt an: Ihr Inneres wird ebenso sinnfällig wie ihre angenehme äußere Erscheinung.

Aber auch Lucys ältere Schwester Pauline, die der jüngeren ihr anziehendes Wesen neidet und von Eifersucht auf deren Schönheit zerfressen wird, ist eine äußerst gelungene Figur. Pauline liefe dauernd hinter sich selbst her, schildert Cather ihren Charakter. Die rundliche, geschwätzige Frau, als die Pauline auftrete, sei nichts anderes als eine Gliederpuppe, die Pauline vor sich herschiebe, ihr zweites Ich habe noch nie jemand gesehen.

Ebenso markant sind der großspurige Harry und der sensible Sebastian. Während Sebastian schlicht auftritt und die Eleganz wahrer Selbstsicherheit besitzt, wirken Harrys Anzüge immer so, als seien sie nicht Teil seines Wesens. Und Cathers Sprache ist so lebhaft und farbig wie ihre Protagonistin. Über Sebastians Konzertpianisten, dem Lucy von Anfang an nicht über den Weg traut, heißt es:

"Sein Gesicht war wie eine Handvoll Mehl, die auf den Vorhang geschleudert worden war."

Als der Wind über den Michigan-See fegt, kommt es Lucy so vor, "als tränke sie Feuer".

Willa Cathers Werk umfasst zehn Romane, zwei Kurzromane und mehrere Dutzend Kurzgeschichten und gehört in den USA zum Literatur-Kanon. Cather, die 1947 verstarb und schon zu Lebzeiten als Klassiker galt, hat einige der eindringlichsten Frauengestalten der amerikanischen Literatur erfunden: von Lucy Gayheart über Alexandra Bergson aus "O Pioneers" (1913) und Marian Forrester aus "A Lost Lady" (1923) bis zu Myra Henshawe aus "My Mortal Enemy" (1926).

Es sind Frauen, die mit konventionellen Lebensentwürfen brechen und ihre eigenen Wege gehen. In Deutschland wurde Cathers Stimme bis heute nicht ausreichend gewürdigt. Es ist an der Zeit, dass sich das ändert.

Rezensiert von Maike Albath

Willa Cather: Lucy Gayheart
Aus dem Amerikanischen von Elisabeth Schnack
Nachwort von Alexa Hennig von Lange
Roman, Manesse Verlag Zürich 2008
352 Seiten, 19, 90 Euro