Ein Toter, der nicht betrauert wird

28.12.2009
Nach literaturwissenschaftlichen Arbeiten und ihrem zunehmend erzählerischer werdenden essayistischen Werk hat Silvia Bovenschen nun ihren zweiten Roman veröffentlicht. "Eine deutliche Mordgeschichte" und nicht etwa "Kriminalroman" nennt ihn die Autorin – damit verweist sie auf das Genre, das sie zitiert, und vermeidet doch listig die Festlegung auf bestimmte Erwartungen an Thema, Ermittlerfiguren und Handlungsführung.
Alles beginnt mit einem toten Professor, der mit einem Messer im Rücken auf der Personaltoilette seines Instituts gefunden wird. Natürlich muss dieser Mord aufgeklärt werden. Und das tut der Polizeikommissar Merker mit seinem Team.

Ebenso wichtig wie die polizeilichen Ermittlungen sind die Menschen aus dem Umfeld des Toten: sein Kollege Professor Dr. BrUNO Schauer und dessen Frau, die Schriftstellerin Carola Schauer sowie deren Verlagslektor; die kluge Institutssekretärin, der sanftmütige Bibliothekar, eine farblose Doktorandin, ein eitler Sachbuchautor, der aufgeblasene Privatgelehrte, dessen herrschsüchtige 79-jährige Mutter und seine scheinbar indolente Freundin Molly - und einige mehr. Sie alle geraten durch den Todesfall in Aufruhr. Allein: Niemand trauert. Kaum jemand kannte den Toten wirklich, und die Wenigen, die ihn kannten, wissen um seine Niedertracht, mit der er anderen das Leben zur Hölle machte. Es gibt also genügend Tatverdächtige.

Im Roman geht es weniger um die Aufklärung des Mordfalls als um das, was der Mordfall als "unerhörte Begebenheit" sichtbar macht: die Charaktere der Personen und ihre Beziehungen zueinander und zur Welt – auf alles das bezieht sich der vieldeutige Titel: "Wer Weiß Was". Die Figuren reden unaufhörlich. Sie alle sind das, was sie sind, vor allem durch ihr Sprechen – und auch durch Verschweigen oder Lügen. Es mag zuweilen irritieren, dass sie sich recht schriftsprachlich und mit einer gewissen altmodischen Förmlichkeit ausdrücken (zum Beispiel häufiges Imperfekt, das in der Alltagssprache kaum jemand verwendet). Das ist (ironisierende) erzählerische Absicht. Als der Polizeikommissar, der Literaturprofessor und die Schriftstellerin zu einer "sachdienlichen" Mitteilung zusammenkommen, verweigert sich der Professor jeglicher Eindeutigkeit, stellt ausführlich alles infrage, was er sagen könnte, und relativiert das tatsächlich Gesagte sogleich wieder in gewundenen Sätzen.

Seine Frau reflektiert Möglichkeiten, über Mord zu sprechen, statt über den konkreten Mord selbst zu reden. Dagegen gesetzt werden lakonisch die Reaktionen des Kommissars, in dem rasch "eine professionelle Unruhe" aufsteigt, die er verzweifelt zügeln muss, um überhaupt eine Aussage zu erhalten. Entnervt erklärt er seinen Kollegen: "Du willst einen Mord aufklären und die Frau hat Angst vor einem Wort im Plural ..." Nicht Sprache als Instrument zur eindeutigen Übermittlung von Inhalten wird in diesem Kabinettstücken vorgeführt, sondern eine Sprache, in der sich die Haltung der Personen zur Welt manifestiert.

Silvia Bovenschens Roman ist kein klassischer Krimi. Er ironisiert das Genre, ohne es lächerlich zu machen, ebenso wie er die akademische und literarische Welt ironisiert. "Wer Weiß Was" ist ein Roman über Literatur - und auf subtile Weise unterhaltsam.


Besprochen von Gertrud Lehnert

Silvia Bovenschen, Wer Weiß Was. Eine deutliche Mordgeschichte
Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2009
333 S., 19,95 Euro