Ein Titan der deutschen Chirurgie

Von Uli Aumüller · 24.11.2011
Als Leiter der Berliner Universitätsklinik und Modearzt operierte August Bier Prominenz bis hin zu Kaiser Wilhelm II und Reichspräsident Ebert. Zugleich war er ein entschiedener Verfechter der Homöopathie - und ganz nebenbei ein Pionier des ökologischen Waldbaus.
"Man soll mit Ausdrücken ja sorgfältig umgehen, aber ich glaube, es passt für ihn der Ausdruck: Er war ein Titan oder einer der Titanen der deutschen Chirurgie."

Mehr als sechzig Jahre nach seinem Tod sprechen Kollegen und Zeitzeugen voller Verehrung von August Bier. Der Berliner Chirurg und Forstwissenschaftler ist trotz seiner immensen Verdienste aber wenig bekannt, da sein Nachfolger Sauerbruch, der erste Medienstar in der Medizin, ihn mit spektakulären Operationstechniken in den Schatten stellte.

1907 war August Bier mit nur 45 Jahren Leiter des angesehenen Ersten Chirurgischen Klinikums in Berlin geworden. Mit einem kühnen Eigenversuch hatte der junge Professor der Universität Kiel Aufsehen erregt:

"Ich habe zahlreiche Versuche an mir selbst gemacht, von denen einer sehr bekannt geworden ist. Im Jahre 1898 führte ich die Betäubung des Rückenmarks ein."
Er und sein Assistent spritzten sich gegenseitig eine Kokainlösung in den Wirbelkanal, um die untere Körperhälfte zu betäuben. Professor Bauer von der Gesellschaft für Chirurgie beschreibt die Wirkung dieser ersten Spinalanästhesie:

"Zunächst haben sie sich gezwickt, natürlich, und dann haben sie Nadelstiche gemacht, dann ist auch beschrieben, hätten sie sich mit einem Hammer auf’s Schienbein geschlagen oder auch mit glühenden Zigarren letztlich Schmerzreize sich zugesetzt, und als völlig unempfindlich hat sich das dann dargestellt. Es wurde damals mit diesem heroischen Eigenversuch belegt, dass es mit dieser Technik möglich ist mit dieser Technik, die abhängigen Partien gefühllos zu machen und damit natürlich auch schmerzfrei zu operieren, ohne die Risiken einer Voll-und allgemeinen Narkose eingehen zu müssen."

August Bier wurde am 24. November 1861 im nordhessischen Helsen, heute Bad Arolsen, geboren. Sein Vater, der Geometer beim Fürsten zu Waldeck war, nahm ihn oft mit in Wald und Flur und weckte in dem Knaben frühzeitig ein Interesse für die Natur und alles Lebende. So war es die Erfüllung eines Jugendtraums, als der Chirurg 1912 von den Honoraren seiner reichen Privatpatienten das Waldgut Sauen im Süden Berlins kaufen konnte. Mithilfe aufwendiger Experimente wandelte er die dortige Kiefernsteppe in artenreichen Mischwald um. Der Forstwissenschaftler Professor Bergmann:

"Er hat Waldränder geschaffen, um den austrocknenden Wind vom Feld fernzuhalten. Er hat gesagt: Der Wald muss verbunden werden. Daran erkennt man den Mediziner. Er hat es geschafft: Wir haben Waldränder, und wir haben dadurch das Klima im Wald verbessert."

1915 wurde Bier an der Westfront als beratender Chirurg tätig. Bald fiel ihm auf, dass zahlreiche der Pickelhauben tragenden Soldaten Kopfverletzungen davontrugen. Daher wurde auf seine Anregung hin der Stahlhelm entwickelt, der unzählige Soldaten vor Verwundung und Tod bewahrte.

Zurück in Berlin, wurde der Chirurg vom Leibarzt Kaiser Wilhelm II. zu einer bis heute geheim gehaltenen Operation hinzugezogen. Dabei wurde aus dem Hodensack des Monarchen eine kindskopfgroße Zyste entfernt. Weniger glücklich verlief 1925 die Notoperation an Reichspräsident Ebert:

"Es war wohl ein sehr fortgeschrittener Befund, und mit den klassischen Zeichen, wie wir heute wissen, einer eitrigen Bauchfellentzündung, und trotz des hohen Einsatzes ist es nicht gelungen, den Reichspräsidenten Ebert mit dieser Operation noch zu retten."

Das Ende des Deutschen Reichs traf den kaisertreuen Bier schwer. Wie viele Vertreter seiner Zunft setzte er sich 1932 für die Wahl der NSDAP ein, trat aber nie der Partei bei. Nach seiner Emeritierung im selben Jahr wurde das traditionsreiche Erste Chirurgische Klinikum auf Betreiben des ehrgeizigen Sauerbruch geschlossen, der seine eigene Klinik in der Charité aufwerten wollte. August Bier zog sich ganz auf das Gut in Sauen zurück und widmete sich seinen Waldbauexperimenten. Bei Kriegsende sorgte eine russische Militärchirurgin, die bei Bier studiert hatte, dafür, dass er das Schloss bis zu seinem Tod 1949 bewohnen durfte. Nach der Wende gründeten Erben Biers die Stiftung August Bier für Ökologie und Medizin. Sie bewirtschaftet den Wald in seinem Sinn und entwickelt seine Ideen weiter.