Ein Teenager auf Höllenfahrt

05.01.2011
Roberto Bolaños schmaler <em>Lumpenroman</em>, 2002 im Original heraus gekommen und nach dem frühen Tod des chilenischen Autors vor sieben Jahren nun auf Deutsch erschienen, ist eine spitzbübische Novelle.
Wie der Titel ganz richtig verspricht, geht es um Halunken und Tagediebe, um Tunichtgute und leichte Mädchen. Schauplatz ist Rom. Die Geschichte spielt vordergründig in der Gegenwart, erzählt auf einer zweiten Ebene aber ein Gleichnis von Leben, Tod, Himmel und Hölle.

Die Gymnasiastin Bianca hat ihre Eltern durch einen Autounfall verloren. Gemeinsam mit ihrem jüngeren Bruder bleibt sie in der alten Familienwohnung zurück. Nach einer Weile stellen die Geschwister den Schulbesuch ein. Bianca beginnt, in einem Friseursalon zu arbeiten, der Bruder verdingt sich als Putzkraft in einem Fitnessstudio. Abends schauen sie stundenlang fern: Quizsendungen, Talkshows, Serien, schließlich auch Pornovideos.

Eines Tages nisten sich zwei Freunde des Bruders bei ihnen ein. Bianca bezeichnet sie nach ihren Herkunftsorten als "der Bologneser" und "der Lybier" und lässt sich abwechselnd von ihnen besteigen, wobei sie nie genau wissen möchte, wer sie gerade beglückt.

Weil die merkwürdige Schicksalsgemeinschaft kaum über die Runden kommt, fassen die drei Männer einen Plan. Sie bringen Bianca zu Maciste, einem ehemaligen Bodybuilding-Star, dem ab und zu Gespielinnen zugeführt werden. Er sei reich und habe irgendwo in seinem vernachlässigten Haus einen Tresor, den es auszurauben gelte, heißt es. Bianca findet nichts und gelangt plötzlich an einen Wendepunkt.

Die Heldin und Ich-Erzählerin fächert die Geschehnisse mit lapidarem Gestus aus der Retrospektive auf: "Jetzt bin ich Mutter und auch eine verheiratete Frau, aber vor gar nicht langer Zeit war ich eine Kriminelle", lautet der erste Satz. Was sich wie eine schnell hingeworfene Skizze postkapitalistischer Verwahrlosung ausnimmt, hat es in sich. Bolaño arbeitet mit einer präzisen Hell-Dunkel-Metaphorik, die an die Chiaro-scuro-Effekte auf Caravaggio-Gemälden erinnert und genauso drastisch ist.

Der Schriftsteller, der 1953 geboren wurde, unter Pinochet kurzzeitig im Gefängnis landete und sich in Spanien als Nachtwächter und Campingplatzwärter durchschlug, kannte die Halbwelt aus eigener Erfahrung. Bevor er zur Kultfigur der lateinamerikanischen Literatur wurde, war er heroinsüchtig, und in vielen seiner Romane geht es um die Ränder der Gesellschaft.

Bianca trägt einen sprechenden Namen: Das Weiß passt zu der gleißenden Helligkeit, von der auch die Wohnung durchströmt wird. Anders als bei Dantes Jenseitsreise steht das Licht aber nicht für paradiesische Sphären, im Gegenteil. Die Fernsehshows und Fitnessstudios strahlen ebenfalls ein grelles Licht aus. Dunkel und finster ist das Haus von Maciste, dessen wahrer Name in kühner Kombination von Johannes dem Täufer und Jesus Christus "Giovanni Dellacroce" lautet und der wie der antike Seher Teiresias blind ist. Mit ihm erlebt Bianca den ultimativen Sündenfall.

Warum in diesem Buch so viel gevögelt wird, erklärt das Motto von Artaud, das Bolaño seinem Buch voran stellt: "Alles Geschriebene ist Schweinerei." Von Sublimation durch Kunst oder Literatur kann also keine Rede sein. Dass am Ende trotzdem eine Rettung folgt, ist ein kichernder Schachzug des damals bereits todkranken Bolaño. Sein Lumpenroman ist ein bitterböses kleines Nachtstück.

Besprochen von Maike Albath

Roberto Bolaño: Lumpenroman
Roman, Aus dem Spanischen übersetzt von Christian Hansen
Carl Hanser Verlag, München/Wien 2010
121 Seiten, 14,90 Euro