Ein "Super-GAU der Transplantationsmedizin"

Moderation: Hanns Ostermann · 21.07.2012
Das Mitglied im Deutschen Ethikrat und Direktor des Universitätsklinikums Essen, Eckhard Nagel, befürchtet nach den Manipulationsvorwürfen um Organtransplantationen in Göttingen einen Vertrauensverlust für die Transplantationsmedizin und plädiert für weniger Transplantationszentren.
Hanns Ostermann: Er scheint sein Handwerk wirklich verstanden zu haben, ein ehemaliger Oberarzt am Göttinger Universitätsklinikum. Allerdings sind damit nicht seine medizinischen Fähigkeiten gemeint, sondern kriminelle. Es besteht der begründete Verdacht, dass er in mindestens 25 Fällen Krankendaten gefälscht hat, damit seine Patienten schneller an Spenderorgane kommen. Staatsanwaltschaft und Klinik ermitteln, die Bundesärztekammer hat eine Task-Force eingesetzt. Ute Andres:

Bericht von Ute Andres (MP3-Audio) Ute Andres aus Göttingen. Professor Eckhard Nagel arbeitet seit mehr als 20 Jahren im Bereich der Organtransplantation. Er ist ärztlicher Direktor des Universitätsklinikums Essen und Mitglied im Deutschen Ethikrat. Ich habe ihn zunächst gefragt: Wird für Sie da ein Alptraum Realität?

Eckhard Nagel: Ja, das kann man so sagen, das was wir hören zumindest aus Göttingen, ist ... ja, man kann es vielleicht auch als Super-GAU der Transplantationsmedizin sich artikulieren oder vorstellen, denn bisher - da erinnere ich mich an einen Vortrag, den ich vor einigen Monaten gehalten habe vor einem Gremium von Juristen und Ärzten - konnte ich mich immer hinstellen und sagen, in den ganzen 20 Jahren, in denen ich ja auch Transplantationsmedizin aktiv bin, können wir feststellen, dass niemand gegen das Transplantationsrecht in Deutschland so verstoßen hat, dass er strafrechtlich verfolgt werden musste. Und das war schon eine gute und wichtige Gewissheit, um Vertrauen für diesen Bereich in der Medizin wirklich zu bekommen.

Ostermann: Nun gibt es strenge Kriterien, nach denen Spenderorgane durch die Vermittlungsstelle Eurotransplant in Holland vergeben werden. Die scheinen doch nicht streng genug - oder doch?

Nagel: Also die Kriterien sind ganz streng und eindeutig, im Sinne von verlässlich. Sie werden alle in einen Computer hineingegeben, der Computer selber, nach einer vorgegebenen mathematischen Formel, rechnet dann aus, an welcher Stelle ein Patient auf der Warteliste steht, und insofern sollte "objektiv" in Anführungsstrichen dann die Entscheidung getroffen werden, wie man das Organ dann zuteilt. Nun kann man natürlich jedes System ad absurdum führen, wenn man mit krimineller Energie die Wohnvoraussetzungen verändert und zum Beispiel Patientendaten, wie wohl im vorliegenden Fall geschehen, manipuliert, also indem ich zum Beispiel hier falsche Werte für die Nierenfunktion eingebe. Ich könnte natürlich aber auch das Alter verändern oder alle möglichen anderen Kriterien, die selbstverständlich grundlegend sind für die Entscheidung und für den Kalkulationsmechanismus.

Ostermann: Da wurde gefälscht möglicherweise, Patienten wurden kränker gemacht, als sie wirklich waren. Lässt sich das in Krankenhäusern überhaupt verhindern?

Nagel: Also ich habe mal versucht, auf meiner eigenen Station nachzuvollziehen, ob es mir gelingen würde, die jetzt hier vorgetragenen Vorwürfe, also Manipulation von Laborwerten umzusetzen. Und heute, wo wir ja elektronische Patientenakten in aller Regel haben, ist das schon eine richtige Aufwendung. Ich wüsste persönlich nicht, wie es funktioniert. Ich bekomme die Daten vom Labor zugespielt, sie kommen auf den Computer, sie sind in dem Computer auch ob der Sicherheit für den Patienten und der Dokumentation ...

Ostermann: Ja, gut, aber Sie brauchen doch dann aber, was das Labor betrifft, nur jemanden, der ihnen zuarbeitet, würden Sie etwas derartiges anstellen wollen. Und schon würden Sie das System aushebeln.

Nagel: Ja, Sie sagen, nur jemand, der mir zuarbeitet, aber wo kriege ich jetzt jemanden her, der mir zuarbeitet, und wie funktioniert das dann auch? Also es ist tatsächlich im normalen klinischen Ablauf nicht vorstellbar. Sie brauchen viele Gedanken, Sie brauchen eine kriminelle Energie von besonderer Art und Weise, um das tatsächlich zu machen, und davor ist leider kein System geschützt, dass, wenn jemand es wirklich absichtlich betrügen will, dass er es dann auch betrügen kann.

Ostermann: Stellt sich für Sie vielleicht auch die Frage der Lukrativität? Wenn eine Klinik für jeden Eingriff auf diesem Gebiet 150.000 Euro bekommt, besteht da nicht auch die Gefahr der - sagen wir - Verführung?

Nagel: Nein, das glaube ich nicht, es gibt viele andere Bereiche, in denen auch viel Geld gezahlt wird, zum Beispiel in der Onkologie für Chemotherapeutika, für bestimmte Untersuchungen mit Großgeräten und so weiter. Also wir haben Situationen, wo natürlich schwer kranke Patienten und teure Behandlungsverfahren auch gut vergütet werden. Nein, ich befürchte, es ist hier eine andere Situation, dass natürlich ein einzelner Arzt, eine einzelne Abteilung sich messen lassen will und auch heute gemessen wird an den jeweiligen Leistungen, die sie erbringt, und dass in einem sehr stark ökonomisierten Gesundheitssystem diese Leistungen bewertet werden. Und insofern ist es unabhängig von dem Entgelt, was da fließt, es ist viel mehr die Situation der Konkurrenz untereinander, die dazu führt, dass offensichtlich Menschen hier in eine völlig falsche Richtung gehen.

Ostermann: Wie wollen Sie dieser Konkurrenz begegnen?

Nagel: Also die Ökonomisierung des Gesundheitswesens ist, glaube ich, nicht aufzuhalten, das ist ja in unseren Lebenswelten generell der Fall, da haben wir Schwierigkeiten schon an vielen anderen Stellen, das erleben ja Patientinnen und Patienten auch. Aber natürlich müssen, nachdem die Dinge in Göttingen aufgeklärt wurden, müssen Handlungen erfolgen, eine Restrukturierung der Kontrollen, und ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, dass wir am Ende auch zu weniger Transplantationszentren kommen, die besser kontrollierbar sind, weniger beteiligte Personen und sicher auch gerade im Übertragen von Daten ein Vieraugenprinzip, damit so etwas nicht wieder vorkommt.

Ostermann: Was bedeutet dieses Vieraugenprinzip, das jetzt immer wieder im Gespräch ist?

Nagel: Also normalerweise gibt es einen Transplantationskoordinator, der die Daten weitergibt, im Göttinger Fall vermutlich der betreffende Arzt selber. Das heißt, die müssen übertragen werden, und eben wie gesagt, in unserem Fall in Deutschland nach Eurotransplant Leiden gemeldet werden. Wenn die nicht von einer Person, sondern von zwei Personen noch mal gegengezeichnet werden müssen - so ähnlich, wie wir das in der Organspende ja schon haben - für bestimmte Erkenntnisse, dann ist die Wahrscheinlichkeit natürlich des Betruges noch geringer.

Ostermann: Jetzt gibt es seit Kurzem das neue Transplantationsgesetz. Wir haben die Pflicht, haben Sie einmal gesagt, uns mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Wie groß ist der Vertrauensverlust, der Schaden?

Nagel: Ich befürchte, der Vertrauensverlust ist nicht absehbar. Dennoch möchte ich klar formulieren, die Überwachungskommission hat festgestellt, und zwar hoffentlich zu einem sehr frühen Zeitpunkt, dass die Dinge nicht in Ordnung waren in Göttingen, insofern gibt es Mechanismen, die verhindern, dass sich so etwas flächendeckend ausbreiten würde, sondern das sind hier Einzelfälle, und ich stehe nach wie vor vor Kolleginnen und Kollegen in anderen Transplantationszentren und bin fest davon überzeugt, dass so etwas ein absoluter Einzelfall ist. Nichtsdestotrotz ist die allgemeine Bevölkerung natürlich irritiert, und es wird wahnsinnig schwer, die Menschen davon zu überzeugen, dass sie in diesem Bereich Vertrauen haben könne. Ich persönlich bin fest davon überzeugt, dass das weiter gerechtfertigt ist.

Ostermann: Professor Eckhard Nagel, ärztlicher Direktor des Universitätsklinikums Essen und Mitglied im Deutschen Ethikrat. Herr Professor Nagel, danke Ihnen für das Gespräch!

Nagel: Bitte schön, Herr Ostermann!


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