Ein Scheusal auf Sinnsuche

11.11.2011
Ein depressiver Unternehmensberater sucht sein Heil bei Richard Wagner und Max Beckmann. Mariam Kühsel-Hussaini legt nach ihrem gefeierten Erstling "Gott im Reiskorn" ihren zweiten Roman vor und beschwört nichts Geringeres als Kunst, Seele und Errettung.
Was für ein Scheusal! Der Held in Mariam Kühsel-Hussainis zweitem Roman ist ein bildungsbeflissenes, menschenfeindliches Scheusal. Zumindest von Außen. Innen toben Kämpfe zwischen seiner künstlerischen und seiner praktischen Seele.

Doch diese Kämpfe macht er hauptsächlich mit sich selbst aus – und mit dem Leser. Nicht mit seiner Familie, seiner Frau und den drei Kindern, nicht mit seinen Kollegen in der Unternehmensberatung, nicht mit seinen Nachbarn in der Potsdamer Villengegend, die er bei einer Party aus seinem Haus schmeißt – weil sie ihn anekeln. Auch nicht mit jungen Künstlern, die er tätlich angreift, weil sie seine ästhetischen Vorstellungen verletzen. Er ist aggressiv, depressiv, beleidigend. Menschen sind ihm zuwider und seine Familie versucht er zu kontrollieren.

Er heißt Max Freydorn, ist Ende 30 und trotz seiner Unausstehlichkeit auf der Suche nach einem tieferen Sinn - jenseits seines Brotberufs. Er glaubt ihn in der Kunst gefunden zu haben. Er sucht das Schöne und gleichzeitig die Nähe zum Tod – in heimlichen Reisen nach Venedig, in einem düster geschilderten Berlin, im Gefängnis einer reichen, satten und gebildeten bürgerlichen Existenz zwischen Kaminzimmer und Ankleideraum.

Hat er eine Depression? Ist er einfach nur unglücklich mit seiner Lebenssituation? Dreht er durch? Die Autorin lässt das in der Schwebe. Sicher ist nur: er kränkelt ständig. Er hat Kopfschmerzen, ihn plagen Übelkeit, Schwindel und Magenschmerzen.

Aber er glaubt zutiefst daran, dass die Kunst ihn retten kann. Die eher klassische Kunst. Er hasst das Zeitgenössische, es ist ihm einfach zu hässlich und zu provokativ. Er hört Wagner, er liebt Max Beckmann. Von letzterem bestellt er sich eine Kopie seines berühmten Triptychons "Abfahrt" ins Haus. Nach diesem Bild hat die Autorin auch ihren Roman benannt. Ein Roman, der mit einem unzeitgemäßen Ton daher kommt und die Sehnsucht des Helden nach der radikalen Ästhetisierung der Wirklichkeit selbst nachvollzieht.
Mariam Kühsel-Hussaini schreibt von "marmornem Wunderschmerz" und von "Wahnschönheit"; sie führt "trommelndes Zitrusgold" und "Kreidene Ohnmacht" ein.

Sie bedient einen neo-romantischen Sound, der erst befremdet, aber nie aufgesetzt oder zitatenhaft wirkt. Sie zelebrierte ihn zum Teil schon in ihrem vor einem Jahr gefeierten Erstling "Gott im Reiskorn", in dem sie nicht ohne Nostalgie ihre Herkunft aus den intellektuellen Kreisen Afghanistans beschrieb.

Wenn man erst mal das Staunen über diesen in der jungen deutschen Literatur ungewohnten Ton abgelegt hat, eröffnen sich bei Mariam Kühsel-Hussaini ungeahnte literarische Welten. Sie bleibt - konsequent und aufgeregt - bei ihrem Ton, als wäre es das normalste der Welt. Als könne man heutzutage noch so schreiben. Und siehe da, man kann!

Ein Buch, das zwar mit der Beschwörung der Schönheit der Seele und der Macht des Ästhetischen an Künstlerromane des 19. Jahrhunderts erinnert, aber mit seiner Weltabgewandtheit dennoch erstaunlich heutig wirken kann. Ein willkommener Sonderfall in der jungen deutschen Literaturszene.

Besprochen von Vladimir Balzer

Mariam Kühsel-Hussaini: Abfahrt
Berlin University Press 2011