Ein promovierter Träumer

11.11.2008
"Salvatore" ist eine merkwürdige Lektüre, die man nicht so schnell vergisst: Zuerst wirkt das Buch wie ein Roman, dann wandelt es sich zur hymnischen Nacherzählung eines Pasolini-Films, um schließlich zum Essay zu werden: eine scharfe Polemik gegen die textkritische Theologie. In der Salvatore-Figur verkörpert Arnold Stadler jene religiöse Sehnsucht, die bei keiner Glaubensgewissheit angekommen ist.
Päpste, Pilger, Prediger - das Thema Religion ist en vogue. Viel ist seit einigen Jahren von der Rückkehr der Religion die Rede. Dabei mag man sich fragen, ob das Christentum noch maßgeblich unsere Gegenwartskultur prägt, von Ostern, Weihnachten und dem Gedränge auf dem Jakobsweg einmal abgesehen. Kirchen werden abgerissen und Gemeinden zusammengelegt, so dass Menschen, die es früher nicht weit zur nächsten Dorfkirche hatten, oft lange fahren müssen, wenn sie einen Gottesdienst besuchen möchten.

Aber auf den Büchertischen ist die Religion tatsächlich "zurückgekehrt". Ist es die neue Frömmigkeit? Oder wird die Religion, gerade weil sie aus dem Alltag fast gänzlich verschwunden ist, eher als "intellektuelles Abenteuer" empfunden?

Wie auch immer, bei Arnold Stadler ist die religiöse Sehnsucht keine Frage der Mode. Der 1954 geborene Autor hat in den 70er Jahren Theologie studiert, bevor er sich der Germanistik und dann dem Erzählen zuwandte. Sein neues Buch ist eine Rückkehr zu den Ursprüngen - und zunächst einmal eine merkwürdige Lektüre.

Unter dem schlichten Titel "Salvatore" findet sich keine Gattungsbezeichnung. Nach einigen Seiten stellt man sich auf einen Roman ein, dessen Held den heilsbringenden Namen trägt. Mittendrin aber geht Salvatore ins Kino, und das Buch wird über weite Strecken zur hymnischen Nacherzählung eines Pasolini-Films. Um sich dann noch in einen Essay zu verwandeln: eine scharfe Polemik gegen die textkritische Theologie. Kein Zweifel, formal ist das unausgegoren. Aber das Buch wird immerhin getragen von einem Furor, der die Lektüre reizvoll macht. Zu den Neuerscheinungen, die man, kaum gelesen, auch schon wieder vergessen hat, gehört "Salvatore" nicht.

Der Endvierziger Salvatore ist ein Alter Ego des Autors. Auch er ist ein verlarvter Gottsucher, auch er hat ein gescheitertes Theologiestudium im Gepäck. Danach war Salvatore Grabredner, um schließlich beim "Journalismus" zu landen. Aktuell verdient er sein Geld, indem er mit einem "Verbrauchervortrag" im Land herumreist. Er hat einen Vater, der aus Kalabrien stammt und später in Norddeutschland gelandet ist, ausgerechnet in Leer: Nomen est omen. Eine ganze Reihe von Onkeln und Tanten sind ebenfalls übergesiedelt und haben beigetragen zur Etablierung der Pizza nördlich des Wiehengebirges.

In der Salvatore-Figur verkörpert Stadler jene religiöse Sehnsucht, die bei keiner Glaubensgewissheit angekommen ist, sich aber im Alltag ständig meldet als gärende Unzufriedenheit mit dem Gegebenen. Salvatore ist ein "promovierter Träumer", zwar verstrickt in irdische Verlockungen (wie sie etwa im "Swingerclub bei Fallingbostel" geboten werden), aber gerade deshalb auch immer stärker vom Verdacht beseelt, dass das heutige, nur noch von der Stiftung Warentest abgesegnete Leben "nichts als ein Geschwätz" sei.

Grimmige Kalauer-Anfälle suchen ihn heim, dargeboten in bestem Stadler-Stil, wortmächtig, überreizt, verkauzt, eine Mischung aus Empfindsamkeit und Kraft-Manier. Kein Zweifel, Salvatore-Stadler hadert aufs Heftigste mit der Gegenwart, er zieht vom Leder gegen die verlogene TV-Gesellschaft und den allgegenwärtigen Konsumismus. Die Spaßkultur bereitet ihm ebenso Verdruss wie der "Terror gegen die Raucher" oder die Hirnforschung als neue Leitwissenschaft. Über den grassierenden Tatsachen- und Vernunftglauben redet er sich in Rage, aber auch über ein Unwort wie "Frühstücksbuffet".
Salvatore treibt sich herum am "Vatertag", an dem die meisten nur noch alkoholische "Himmelfahrt" suchen. Er sieht Fischern bei der Angelei zu (wieder eines dieser dick aufgetragenen Motive), dann besucht er einen trostlosen Provinzgottesdienst. Aber wie den Himmelfahrtsnachmittag verbringen? Da wird im Gemeindesaal des Küstenkaffs ein Film angeboten: "Das 1. Evangelium nach Matthäus", Pasolinis Meisterwerk aus dem Jahr 1964.

Zunächst stellt sich heraus, dass in dem Film Salvatores halbe Verwandtschaft mitspielt. Pasolini hat mit Laiendarstellern gearbeitet und ist dabei ausgerechnet im Heimatdorf des Vaters auf viele pittoreske Gestalten und zahnlückige "Magermilchkrüppel" gestoßen - ein Fundus an menschlichem Elendspersonal für die Passionsgeschichte.
Die Himmelfahrtsverlegenheitslösung wird dann für Salvatore, der den Film zuletzt als Kind gesehen und kaum verstanden hat, zum überwältigenden religiösen Erlebnis. Ergriffen ist er von den grandios komponierten Schwarzweißbildern, von der charismatischen Jesus-Gestalt, vom großen Mitleid mit den Armen, Kranken, Niedergeschlagenen. Die Filmbilder (nicht immer ergiebig) kommentierend, wird das Evangelium noch einmal nacherzählt. Schließlich heißt es über Salvatore: "Er sah und glaubte" - zumindest auf dem Nachhauseweg.

Im letzten Drittel berichtet Stadler von Pasolini und der Entstehung des Films, der "mehr ist als ein Film". Vor allem aber macht er seiner gestauten Wut über die "Schriftgelehrten" der Theologie Luft. Die Sehnsucht nach Wundern hätten sie ausgetrieben und, auf der Suche nach dem "authentischen Jesus", vom Evangelium nur zwei Worte übrig gelassen. Die historisch-kritischen Bibelwissenschaftler werden als "Konkursverwalter" und "Schrotthändler" des Glaubens beschimpft.

Nebenbei liest der Autor dem Kapitalismus und Neoliberalismus dann doch recht zeitgemäß die Leviten. Bei aller Freude an kräftigen Worten und entschiedenen Meinungen: Zu sehr klingt Stadlers Suada bisweilen selbst nach luftschnappendem Fernsehpredigerton.

Rezensiert von Wolfgang Schneider

Arnold Stadler: Salvatore
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008,
224 Seiten, 17,90 Euro